Führung ist ein Schlechtwetter-Job, heißt es zurecht. Sie findet nicht immer im Sonnenschein statt. In Zeiten des „Schocks“, in Krisen gelten eigene Gesetze. Bei manchen Führungskräften ist Führung am Limit vorgesehenen – etwa im militärischen Bereich oder bei bestimmten Teams in Krankenhäusern. Andere Führungskräfte geraten unerwartet und überraschend in Extremsituationen. Ein Anschauliches Beispiel ist die Corona-Pandemie, die Führungskräfte in Kliniken, Lebensmittelgeschäften, Politik und Sicherheitskräfte ans Limit brachte. Ein anderes Beispiel sind extreme wirtschaftliche Schieflagen, etwa bei Wirecard oder bei vom Lockdown getroffenen Unternehmen. Wie sollte man in Extremsituationen führen, welche Gesetze, Prinzipien und Regeln gelten für Krisenführung? Das zeigt dieses Kapitel. …
Krisenführung: Wer reitet die Welle – und wer wird zerschmettert?
In diesem Beitrag:
Herausforderung Krisenführung
Mitarbeiter im Lebensmittelhandel waren während der ersten Welle der Corona-Pandemie täglich hunderten Kunden ausgesetzt, mussten sich „anhusten lassen“, zunächst geschützt nur durch ein paar Gummihandschuhe oder Plastikfolien, da Masken und Desinfektionsmittel lange Mangelware waren. Ärzte in den Spezialabteilungen der Kliniken arbeiteten unter dramatischen Bedingungen, zunehmend an der Belastungsgrenze. Weil Schutzausrüstung oft fehlte, konnten viele Ärzte in den Corona-Abteilungen ihre Schutzmasken nicht wie vorgesehen wechseln. Eine Maske musste den ganzen Tag halten, zum Essen und Trinken unter hohem Infektionsrisiko auf- und abgesetzt werden. Die knappen Vorräte an Ausrüstung gingen zur Neige, Nachschub konnte nicht beschafft werden, das wenige Vorhandene wurde oftmals noch gestohlen.
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Diese Beispiele verdeutlichen: Krisenführung ist mit Bedrohungsgefühlen, Knappheit und Verunsicherung konfrontiert. Motivation und Mitarbeiterbindung sinken. Im Extremfall fliehen Mitarbeiter, wie das traurige Beispiel in spanischen Altenheimen zeigte, bei denen zahlreiche Bewohner tot aufgefunden wurden, weil Mitarbeiter sie aus Angst vor dem Corona-Virus in ihren Betten zum Sterben zurückgelassen hatten und nicht mehr zum Dienst erschienen. Und es kann, wenn noch extremere Ereignisse eintreffen, dazu kommen, dass man Mitarbeiter führen und motivieren muss, die zwangsrekrutiert wurden – als Ärzte und Pfleger im klinischen Bereich oder als Arbeitslose und Flüchtlinge zur Erntehilfe. Das hört sich in der heutigen Zeit erst einmal bizarr an, die Politik hatte aber eben solche Konzepte diskutiert und vorbereitet.
Das Problem und die Verunsicherung wird oft verschärft durch schwere handwerkliche Führungsfehler, wie folgender Kasten zeigt.
Risiko: Vertrauensverlust durch Führungsfehler
Oft kommt in Krisen dazu: Verantwortliche verunsichern Menschen zunehmend durch handwerkliche Führungsfehler, Konzeptlosigkeit und widersprüchliches Verhalten. Hier sind plakative Beispiele im Zuge der Corona-Epidemie aufgeführt.
So ließ sich die von Annegret Kramp-Karrenbauer geführte Bundeswehr sechs Millionen dringend benötigte Atemschutzmasken der hohen Schutzklasse FFP 2 entwenden. Offenbar wurde die Sicherung dieser lebensnotwendigen Ressource im Kampf gegen das Virus SARS-CoV-2 von der politischen Führung nicht priorisiert. Gleichzeitig kamen Hilferufe aus den Kliniken, dass gerade solche Schutzausrüstung fehlt. Als Konsequenz mussten Mediziner mit unzureichender Schutzausrüstung arbeiten, teilweise Einwegmasken über den ganzen Tag tragen und sogar recycelte Masken, die über Nacht zur Desinfektion erhitzt wurden, am nächsten Tag wiederverwenden. Der Gedankenschritt von „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt!“ zu „Deutschland wird mit Atemschutzmasken verteidigt!“ fand nicht statt, die Lebensader des Gesundheitssystems wurde nicht ausreichend gesichert.
Das Ministerium von Gesundheitsminister Jens Spahn tweetete und kommunizierte auf Facebook und anderen Kanälen offensiv am 14. März 2020: „Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit/die Bundesregierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“ Nur kamen am 21. März eben solche Ausgangsbeschränkungen in Bayern, am 23. März bundesweit.
Politiker ließen, nachdem das Problem schon in mehreren Ländern monatelang bestand, noch entspannt Fasching feiern und internationale Messen abhalten, um sich später zu beklagen, dass Europa ein angeblich „unbekannter Feind“ überrumpelt habe (von der Leyen, 2020). Im gleichen Beitrag feiert die Präsidentin der EU-Kommission „Tschechen, die 10.000 Schutzmasken nach Spanien und anderswo schicken“ als Zeichen für die europäische Solidarität – offenbar ohne, dass es ihr peinlich wäre. Freilich vergaß sie zu erwähnen, dass China alleine 300 Ärzte nach Italien schickte und zahllose Transportmaschinen voll Material – wir reden also von mehreren Millionen Schutzmasken. Selbst das von der EU mit Sanktionen überzogenen Russland half Italien mit mehr Material als die anderen EU-Staaten. Beide Länder, China und Russland, konnten sich so als Helfer öffentlichkeitswirksam profilieren. Diese Kommunikationsstrategie der EU-Kommission, offenkundiges Versagen als Erfolg darzustellen und Informationen gezielt selektiv zu verzerren, war sehr riskant. Insbesondere die Bürger in den betroffenen Regionen Europas durchschauten die euphemistischen Falschdarstellungen.
Befremdlich ist auch der Ansatz, monatelang Flugzeuge aus Krisenregionen wie China und Iran in Deutschland landen zu lassen, ohne besondere Vorkehrungen (außer ein paar Fragebögen). Erst am 1. April 2020, lange nachdem Ausgangssperren in Deutschland bestanden, stoppte der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn dann Flüge aus dem Iran nach Deutschland – auf Twitter kommentierten User das mit „Hui, das ging ja flott!“. Naiv vertrauensselig war auch die Entscheidung, zehntausende Urlauber aus Krisenregionen einreisen zu lassen und zu bitten, in häuslicher Quarantäne zu bleiben (wie auch immer das gehen soll) und die Kinder nicht zur Schule zu senden. Diese lockere Haltung wurde merkwürdig konterkariert und kontrastiert durch immensen Aufwand an anderer Stelle: Aus der chinesischen Provinz Hubei wurden Deutsche ausgeflogen und unter strengste Quarantäne gesperrt. Ebenso wurde systematisch und penibel Infektionsketten bei Unternehmen nachgegangen. Es drängte sich dem Beobachter der Eindruck von Inkonsistenz und Konzeptlosigkeit auf – oder, derber formuliert, das Bild, von jemandem, der sprichwörtlich mit dem Hintern einreißt, was er mit den Händen aufbaut.
Deutschland ist bisher glücklicherweise relativ glimpflich durch diese erste Welle der Krise gekommen. Solche Fehler haben aber das Potenzial, sollte es einmal nicht so glücklich laufen, das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Kommunikation der Führung zu untergraben. Die Stimmung kann dann sehr schnell kippen.
Fazit: Führungskräfte in Wirtschaftsunternehmen und Politik müssen in Krisen diejenigen am Funktionieren halten, an denen der Erfolg hängt. Es geht in jeder Extremsituation darum, die Menschen durch gute Führung zu motivieren und kritische Bereiche am Funktionieren zu halten. Wenn die Stimmung bei den Helfenden im Krankenhausbereich, Lebensmitteleinzelhandel oder der Polizei kippt, dann läuft nichts mehr, wie Beispiele aus anderen Ländern gezeigt haben.
Der nächste Abschnitt zeigt die Prinzipien und Methoden, auf die es bei der Krisenführung ankommt.
Mitarbeiterführung in Krisen: Prinzipien und Methoden
„Die Arbeitsmoral geht in den Keller, die Mitarbeiter fühlen sich verunsichert und gefährdet, im Stich gelassen! Wie können wir unsere Mitarbeiter motiviert halten?“ So oder so ähnlich sind die Rahmenbedingungen für Führung in Krisen. Jeder kann ein Flugzeug fliegen, wenn es ruhig über den Wolken ist, der Autopilot arbeitet. Was aber, wenn ein Treibwerk ausfällt? Dann zeigt sich, wer ein guter Pilot ist. Vergleichbar zeigt eine Krisensituation wer gut führt. International machte die Corona-Epidemie schnell deutlich, wie unterschiedlich erfolgreich Politiker in der Krise führen, die Situation eindämmen und meistern. In den Unternehmen wurde ebenfalls sichtbar, wie gut sie durch die stürmische Zeit gesteuert werden. Eine Krise stellt also die höchsten Ansprüche an Führungskompetenz.
Führungskräfte können, sobald eine Krisensituation herrscht, auf bestimmte Methoden der Krisenführung zurückzugreifen, die folgende Abbildung zeigt.
Krisenführung: Prinzipien und Methoden
Diese Prinzipien und Methoden der Krisenführung sind im Einzelnen:
Emotionen beachten
Krisensituationen sind häufig mit Ängsten und Verunsicherung verbunden. Generell gilt bei Emotionen am Arbeitsplatz: Positive Emotionen sind verbunden mit hoher Motivation (z.B. Balducci, Fraccaroli und Schaufeli, 2010; Sonnentag et al., 2008), negative Emotionen sind verknüpft mit niedriger Motivation (z.B. Halbesleben, Harvey und Bolino, 2009; Parker, Jimmieson und Amiot, 2010). Wenn Emotionen in Gruppen kippen, wird es eng. Führungskräfte müssen in Krisensituationen Optimismus, positive Emotionen, Ruhe und das Gefühl der Situation gewachsen zu sein, ausstrahlen. Emotionen sind ansteckend, übertragen sich von einem Menschen auf den anderen – ähnlich wie ein Virus (z.B. Barsade, 2002). Ein positiv gestimmtes Teammitglied führt daher zu anderen eher positiv gestimmten Mitgliedern. Ein Teammitglied, das schlechte Laune oder Depression und Antriebslosigkeit ausstrahlt, schädigt die anderen im Team. Teammitglieder sollten daher eine positive emotionale Grundstimmung haben. In Teams mit eher positiver Grundstimmung sind u.a. die Fehlzeiten geringer und Mitglieder arbeiten engagierter (George und Bettenhausen, 1990; Forgas und George, 2001). Führungskräfte haben hier eine Schlüsselrolle. Ihre Unsicherheit oder Sicherheit strahlt besonders aus, da sie den höchsten sozialen Status haben. Mitarbeiter haben hier sehr feine Antennen. Damit ist nicht gemeint, die Lage zu verharmlosen, wie das mancher Spaß-Minister gemacht hat, sondern ruhig und selbstbewusst der Situation ins Auge zu sehen.
Vorbild sein – auch wenn es viel kostet
Führungskräfte haben den höchsten sozialen Status, ihr Verhalten hat die stärkste Wirkung auf andere (vgl. Berger, Cohen und Zelditch, 1972). Wer Helfende an die „Front“ schickt und sich selbst im Büro versteckt, zerstört die Motivation. Besonders hässliche Beispiele für diese Art, Ansprüche an andere zu stellen, die man als Führungskraft selbst nicht erfüllt, zeigten sich auch in der Corona-Pandemie. Der Krankenhausdirektor, der mit stets frischer FFP 2 Atemschutzmaske durch die Gänge lief, während die Ärzte und Pfleger in den Corona-Teams die recycelten Masken vom Vortag verwenden mussten, ist eines davon. Aus dem militärischen Bereich kommt das Prinzip „Führung von vorne“. Man hat festgestellt, dass Führungskräfte, die selbst voran stürmen, eher Erfolg in militärischen Auseinandersetzungen haben. Wer sich aber hinter seinen Soldaten versteckt, verliert eher. Führungskräfte in Krisen müssen sich als Vorbild jetzt selbst zumuten, was sie auch ihren Mitarbeitern zumuten, vorne an der Front in den Krankenhäusern und im Kundenkontakt stehen, um zu wissen was los ist, Präsenz zeigen und Menschen motivieren. Auch wenn das Risiko für die Führungskräfte steigt, es geht in Krisensituationen um alles.
Vertrauen schützen
Nichts ist wichtiger in Krisen als eine solide Vertrauens-Beziehung zwischen Führung und Mitarbeitern. Führungskräfte sind dafür da, das Erleben und Verhalten von Menschen zu beeinflussen. Geht das Vertrauen in die Führung verloren, geht die Wirksamkeit der Führung verloren. Daher ist Vertrauen die wichtigste Ressource für Führung, es muss um jeden Preis geschützt werden. Das gilt ganz besonders in Krisensituationen. Oft besteht ein mangelndes Bewusstsein für den Wert und die Zerbrechlichkeit von Vertrauen: Politiker, die während der Corona-Pandemie selbst mit Atemschutzmaske herumlaufen, während sie den Menschen erzählen „Die bringen nichts!“ oder Dinge verkünden, die sie Tage später brechen und widerrufen, sind eines von vielen Negativbeispielen. Ein wichtiger Aspekt von Vertrauen ist auch die wahrgenommene Kompetenz. Der Klinikdirektor, dem tausende Schutzmasken durch Diebstahl entwendet werden, weil er sie nicht zentral sichert, ist hier ein genauso tragisches Beispiel, wie die Politikerin deren Mitarbeiter sich Millionen dringend benötigte Masken stehlen lassen. Die Dinge, auf die sich Führungskräfte konzentrieren – und die Dinge auf die sie sich nicht konzentrieren, zeigen in Krisen schnell, ob sie die Herausforderung wirklich verstehen.
Kontrolle geben
Krisen zerstören die Normalität. Helfende in Läden und anderswo erleben dadurch einen Kontrollverlust. Es gibt eine unsichtbare und schwer einzuschätzende Bedrohung. Das zerstört die Moral. Daher müssen Führungskräfte das Gefühl, die Situation kontrollieren zu können, unbedingt herstellen. Konkret bedeutet das z.B. in der Corona-Krise: Desinfektionsmittel, geeignete Schutzmasken, Gummihandschuhe, Schutzbrille für alle Helfenden im Menschenkontakt. Diese Maßnahmen geben objektiv Kontrolle. Zudem ist es wichtig Menschen subjektiv Kontrollgefühle zu geben, indem man symbolisch Normalität herstellt. Ein Weg, um symbolisch Normalität herzustellen, ist es, an alten Ritualen und Gewohnheiten festzuhalten. Je mehr diese erschüttert werden, desto größer ist die Verunsicherung. Die Corona-Pandemie ist für diese Zerstörung der Normalität, die mit Krisen einhergeht, ein anschauliches Beispiel. Soziale Isolation, Abstand halten von Mitmenschen, Schulen, Bars und Restaurants geschlossen, Haare selber schneiden, Wohnung selbst putzen und auf einmal kein Klopapier mehr. Da tut es gut, wenn man bestimmte Gewohnheiten und Rituale beibehalten kann – und sei es eine Tasse Kaffee in einer bestimmten Situation.
Bedeutsamkeit vermitteln
Menschen sind umso motivierter, je bedeutsamer sie ihre Arbeitsaufgabe erleben (May, Gilson und Harter, 2004). Dabei ist die objektive Bedeutung weitaus weniger relevant, als die subjektive Wahrnehmung durch den Mitarbeiter. Nichts motiviert mehr, als das Gefühl, etwas wirklich sinnvolles, wichtiges zu tun. Jede Krise schafft ihre Helden. Motivierte Mitarbeiter in Einzelhandel, Krankenhäusern, Polizei, die nicht davonlaufen, sind auf einmal erfolgsentscheidend, dass Deutschland die Krise übersteht. Führungskräfte, Politiker, Medien aber auch wir alle sollten diese Bedeutsamkeit der Tätigkeit konsequent kommunizieren und immer wieder betonen: „Auf Euch kommt es jetzt an. Alles hängt an Euch. Die Menschen zählen auf Euch! Danke, dass Ihr hier seid!“
Die Menschen im Blick behalten
Dieser Punkt ist zwar am Schluss der Auflistung aber ein sehr wichtiger. Arbeit im Krisenmodus ist hart und verlangt Führungskräften und Mitarbeitern oft alles ab. Man hat ein Ziel vor Augen und denkt nur noch an Ergebnisse, bekommt einen Tunnelblick. Es gibt eine schwere Aufgabe und man will unbedingt allen sofort helfen. Das ist verständlich. Dabei ist besonders eines nicht leicht: Grenzen setzen, um die Mitarbeiter und sich selbst zu schützen, nicht über die Belastungsgrenze zu gehen (vgl. Crawford, LePine und Rich, 2010). Gehen Mitarbeiter in die Knie, weil man sie verheizt, ist niemandem geholfen (Maslach, Schaufeli und Leiter, 2001). Vielen Führungskräften stehen in Krisen Tage bevor, an denen sie extrem harte Entscheidungen treffen müssen und werden. Dabei gilt es auch gegenüber den Mitarbeitern nicht rücksichtslos zu werden, dem Ziel nicht alles zu opfern.
Der nächste Abschnitt behandelt Phasen von Krisen und die Anforderungen an Führung.
Krisen-Phasen und Führung
Man kann bei Krisen wichtige Phasen abgrenzen.
Krisen beginnen von vielen Menschen unbemerkt. Das ist die Vorphase. Noch funktioniert vieles, man sieht die Probleme noch nicht, auch wenn man sie logisch erwarten und kommen sehen müsste. Kritik findet anfangs wenig statt, brisante Informationen erreichen die meisten Betroffenen nicht. Man fühlt sich unverwundbar, glaubt nicht, dass es einen betreffen wird, ist nicht bereit, Einschnitte zu akzeptieren, auch wenn Experten dazu raten. Führungskräfte sind hier gefragt, den Blick weiter in die Zukunft zu richten als der Durchschnittsmensch, Informationen zu haben, bevor andere sie haben und die richtigen Schlüsse aus den Informationen zu ziehen. Die besondere Führungs-Aufgabe ist dann in dieser Phase die Betroffenen für die Krise und Maßnahmen zu sensibilisieren und zu motivieren, bevor diese wirklich den Eintritt und den Schock spüren.
Dann beginnt die Krise stärker einzuwirken, der akute Zustand tritt ein. Anfangs scharen sich die Mitarbeiter noch um ihre Führungskräfte. Man wägt sich in Sicherheit und nimmt das Funktionieren der Organisationen als selbstverständlich. Aber es ist nicht selbstverständlich, es wird jeden Tag herausfordernder. Hier geht es bei der Führung noch einmal ganz besonders um das weitere Sensibilisieren für mögliche Konsequenzen der Krise und was zu tun ist. Zudem sind die im vorangehenden Abschnitt genannten Gesetze der Mitarbeiterführung anzuwenden.
Gelingt es die Krise nicht schnell einzudämmen, kommt es zur dritten Phase. Unter der Oberfläche zeigen sich dann bald erste Risse und Zerfallserscheinungen. Führungskräfte stehen vor Motivations- und Führungs-Herausforderungen, wie man sie nur aus dem militärischen Bereich kennt. Das ist der voll manifestierte Zustand. Erfolgreich führen in dieser Situation bedeutet die im vorherigen Abschnitt skizzierten Gesetze der Krisenführung anzuwenden. Zudem haben charismatische Führungskräfte in solchen Extremsituationen bessere Erfolgsaussichten.
Als nächstes tritt eine Erholungsphase ein. Das Chaos weicht neuen Ordnungen und erste Strukturen beginnen zu greifen. Mitarbeiter schöpfen Vertrauen und Hoffnung, es gibt erfolgreiche Konzepte zum Umgang mit den Herausforderungen und die Krise wird langsam bewältigt. Führungskräfte sollten hier ein starkes Augenmerk darauf legen, dass fachlich kompetente und emotional stabile Personen die kritischen Prozesse leiten. Zudem ist es wichtig, dass sich Informationen über erfolgreiche Ansätze zum Umgang mit der Krise ausbreiten und andere Bereiche diese schnell lernen und übernehmen. Veränderung, Lernen und Innovation sind wesentliche Erfolgsfaktoren, um sich an die neue Situation anzupassen.
Für Führungskräfte ist natürlich immer die beste Option, Krisen bereits in der Vorphase zu erkennen und das Feuer sozusagen rechtzeitig auszutreten, bevor eine Krise in den voll manifestierten Zustand kommt.
Der nächste Abschnitt geht auf charismatische Führung in Krisen ein.
Charismatische Führung in Krisen
Seit einigen Jahren taucht zunehmend der Begriff der charismatischen Führung auf (Becker, 2015). Charismatische Führung ist dabei unabhängig von einer moralischen und subjektiven Wertung. Man wird charismatische Eigenschaften Mahatma Gandhi ebenso wie Adolf Hitler oder Osama Bin Laden zuschreiben. Diese Führungspersönlichkeiten haben starken Einfluss auf ihre Anhänger ausgeübt, und zwar fernab rein materieller Anreize. Sie haben ihre Anhänger transformiert, aus innerer Überzeugung das gewünschte Verhalten zu zeigen. Und es gibt einen engen Bezug zwischen charismatischer Führung und Krisen: In Krisensituationen werden charismatische Personen besonders gesucht und akzeptiert als Führungskräfte. Ist die Krise dann vorbei, entledigt man sich mitunter auch der charismatischen Führungskräfte, man braucht sie nicht mehr. Ein anschauliches Beispiel: Sir Winston Churchill feierte noch im Mai 1945 den Sieg Englands über Deutschland im zweiten Weltkrieg – und wurde dann aber schon im Juli 1945 von den Engländern als Premier abgewählt.
Was macht charismatische Führungskräfte besonders, welche Merkmale hat ein charismatischer Führungsstil? Die Abbildung zeigt die Übersicht zu den Forschungsergebnissen.
Charisma: Merkmale charismatischer Menschen und Eigenschaften charismatischer Führung
Folgende Merkmale stehen im Zusammenhang mit charismatischer Führung und charismatischen Menschen (z.B. Conger und Kanungo, 1987; Shamir, House und Arthur, 1993):
starke kommunikative Fähigkeiten
Charismatische Personen können sich extrem gut auf die Zielgruppen einstellen, mit denen sie zu tun haben, und finden die richtigen Worte und Symbole in der Kommunikation. So war etwa Steve Jobs, der Mitgründer und langjährige Chef von Apple, berühmt für seine Reden und Auftritte bei der Präsentation neuer Produkte auf Großveranstaltungen. Jobs war ein typischer Krisen-Führer. Nicht umsonst wurde er bei Apple wieder als CEO installiert, als das Unternehmen stark gefährdet war.
eine klare Vision
Charismatische Führungspersonen haben eine klare Vorstellung von der Zukunft der Organisation und können diese präzise und anschaulich darstellen. Ein Beispiel ist die bekannte Rede von Martin Luther King Jr.: „I have a dream …“ Auch dieser Anführer trat hervor, als die Rechte der Schwarzen in den USA in einem sehr krisenhaften Zustand waren.
Ansprechen von Emotionen der Geführten
Der starke Einfluss charismatischer Führungspersonen beruht auch darauf, dass sie weniger die rationalen Motive und Gedanken und um so mehr die Emotionen ansprechen. Das geht oft auch über emotionale Ansteckung (z.B. Barsade, 2002) – die eigene Emotion strahlt aus, auf die Menschen im Umfeld. Alte Aufnahmen von Adolf Hitler zeigen beispielsweise, wie er sich emotional in Rage redet und diese Emotion dann gezielt zu seinen Zuhörern transportiert. Auch diese Person trat hervor und entfaltete ihre Wirkung in der krisengeschüttelten Zeit nach dem ersten Weltkrieg mit hoher Arbeitslosigkeit, Reparationszahlungen und politischer Instabilität. Gleichzeitig ist diese Person ein Beispiel für die Risiken, die von charismatischer Führung ausgehen kann – sie ist eben wirksam, auch wenn in die falsche Richtung geführt wird.
großes Selbstvertrauen
Das tiefe Vertrauen in die eigenen Überzeugungen und Fähigkeiten strahlt aus. Es hilft Führungskräften dabei, andere Menschen zu überzeugen. Mitunter führt es aber zu (zumindest von außen betrachtet) völlig unrealistischen Zielvorstellungen und Unternehmungen.
symbolisches Verhalten
Bei sehr einflussreichen Persönlichkeiten sind häufig Gesten zu beobachten wie Verzicht auf das Gehalt in Krisenzeiten oder extreme Auftritte, um die Firma zu vermarkten. Dabei setzen sie bewusst ihre Vorbildfunktion ein, um Zeichen zu setzen; ganz nach dem Motto: „Wie willst du ein Feuer entzünden, das in dir selbst nicht brennt?“ Aus Protest gegen das brutal durchgesetzte Monopol Englands auf das lebensnotwendige Salz (mit dem immense Steuereinnahmen erzielt wurden), ging etwa der Inder Mahatma Gandhi im sogenannten Salzmarsch nahezu 400 Kilometer zu Fuß, um symbolisch Salz am Strand zu holen.
hohe Erwartungen an die Geführten
Charismatische Führungskräfte richten hohe Leistungserwartungen an die Geführten und zeigen Optimismus, dass diese die Ziele erreichen können. Ein Beispiel sind hier die extrem ambitionierten Ziele des Unternehmers Elon Musk – etwa Mond und Mars zu besiedeln oder in Vakuumtunneln unter der Erde mit Hyperloop-Zügen zu reisen.
Die genannten charismatischen Aspekte sind offenbar teilweise angeboren. Getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge haben vergleichbare Ergebnisse, wenn man ihre charismatischen Eigenschaften misst. Charismatische Führungspersönlichkeiten sind zudem meist extrovertiert und haben ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein (vgl. z.B. House und Howell, 1992). Aber: Charismatische Eigenschaften lassen sich dennoch in gewissem Umfang erwerben, wie Experimente zeigen. Eine Hälfte von Führungskräften bekam Training, charismatisches Verhalten zu zeigen, die andere Hälfte nicht. Teams mit den trainierten Führungskräften zeigten darauf bessere Leistungen (Conger und Kanungo, 1988). Führungskräfte können gezielt kommunikative Kompetenzen trainieren, insbesondere Visionen zu formulieren, Emotionen anzusprechen, Tätigkeiten zu ideologisieren und hohe Erwartungen an die Anhänger zu zeigen. Auf dieser Grundlage können sie in Krisensituationen extreme Wirkung entfalten.
Risiko
Charismatische Führungspersonen sind neben allen Vorteilen auch ein Risiko. Es besteht die Gefahr, dass sie die Ziele und Vorteile der Organisation aus den Augen verlieren und ihre eigenen Ziele über das vorgefundene System stülpen. Sie haben die Macht, das Denken und Verhalten anderer Menschen extrem zu formen, sie in den Untergang zu senden und ihren Mitmenschen Schaden zufügen zu lassen. Das zeigt nicht nur ein Blick in die Geschichte (z.B. Adolf Hitler) und auf die Anführer bestimmter Sekten (z.B. Jim Jones, der hunderte seiner Anhänger überzeugte, sich selbst zu vergiften), sondern auch Studien zu Unternehmen und deren Führungspersonen (vgl. Collins, 2001).
Fazit: Eine Krise ist ein Test. Sie zeigt zeigt immer, wer wirklich gut führen kann und wer nur Schönwetterpilot ist. Manchmal sind die Testergebnisse hässlich, manchmal aber wachsen Menschen über sich hinaus als Führungskräfte und leisten unvorstellbares. Führungskompetenz entscheidet in Krisen und wird oft erst in diesen wirklich sichtbar. Nicht umsonst heißt es: In der Krise beweist sich der Charakter. Die besten Ergebnisse liefern hier Führungskräfte, die ihre charismatischen Fähigkeiten trainieren, die Krisenphasen kennen und sich an die Gesetze der Krisenführung halten.
Der letzte Abschnitt gibt Literaturhinweise zur weiteren Vertiefung.
Führung in Krisenzeiten: Literatur
Aktuelle Literatur-Tipps zu Führung in Krisenzeiten.
Eine ganz andere Situation als Krisen ist, wenn Mitarbeiter viel von zu Hause aus arbeiten – das Homeoffice. Von dieser Führungssituation handelt das nächste Kapitel.
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