Ethische Führung: Führungsethik entwickeln

Ethik und Führung gehören zusammen. Führung selbst ist letztlich die bewusste Beeinflussung von Menschen. Und Führungskräfte treffen und prägen Entscheidungen mit, die sich auf Mitarbeiter, ihre Organisation, die Gesellschaft und die Umwelt stark auswirken. Ethik wiederum beschäftigt sich mit der Bewertung von menschlichem Verhalten. Deshalb liegen ethische Fragen bei der Menschenführung auf der Hand. Wie kann ich als Führungskraft ethisch führen? Wie sieht ethische Führung aus und wie kann ich meine Führungsethik entwickeln?

Führungsethik: Welche ethischen Grundsätze gelten für Führung?

Abstract: Das Kapitel zeigt die dunkle Seite von Führung, ethische Fragen bei Alltagsentscheidungen von Führungskräften, gibt eine Definition und beschreibt ethische Führung am Modell. Anschließend wirft es einen kritischen Blick auf Ethikprogramme in Unternehmen. Es stellt die wesentlichen zentralen Wertefragen vor, mit denen Führungskräfte konfrontiert sind – und für oder gegen diese sie sich oft ganz unbewusst entscheiden. Ziel des Kapitels ist nicht eine platte Vorgabe nach dem Motto: „So sieht ethische Führung aus!“ Das Kapitel soll anregen zu eigenem, tiefem und kritischem Nachdenken. Dafür gibt das Kapitel Tipps, wie man den eigenen ethischen Kompass entwickeln kann. …

Ethische Führung in den Medien

Ständige Berichte in den Medien tragen dazu bei, dass das Vertrauen in Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft bröckelt. Menschen hören von schwarzen Kassen für Korruption bei Siemens, Manipulationen bei Abgaswerten bei VW, Selbstbereicherung von Beratern und Verschwendung bei der Bundeswehr, Milliardenverlusten durch schlechtes Management bei Mautvorhaben im Verkehrsministerium, von abertausenden durch Blutkonserven mit gefährlichen Viren (z.B. HI-Virus, Hepatitis etc.) infizierte Menschen, weil an Tests gespart wurde oder diese aktiv umgangen wurden. Und sie sind regelmäßig mit strategischer Falschinformation aus Politik und Medien konfrontiert, die mitunter schon nach Tagen in sich zusammenfällt.

Die meisten Menschen denken bei Führung und Ethik direkt an diese offensichtlich dunkle Seite der Führung. Das sind einmal Verstöße gegen Corporate Governance Prinzipien oder sogar Gesetze wie

  • Korruption,
  • Betrug, Erpressung oder Übervorteilung von Lieferanten und Kunden,
  • Falschinformation von Kapitalgebern oder Anteilseignern,
  • Gefährdung von Gesundheit und Leben anderer,
  • Verschwendung von Ressourcen und nachteilhafte Vertragsgestaltung,
  • Steuerbetrug,
  • sexuelle Nötigung oder
  • Diskriminierung.

Im Einzelfall ist es meist eine Mischung aus Unfähigkeit und egoistischem Verfolgen eigener Interessen auf Kosten der Organisation, Mitarbeiter oder Allgemeinheit.

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Wichtig ist, dass es deutliche kulturelle Einflüsse darauf gibt, ob solche Praktiken akzeptiert sind. So gibt es Gesellschaften und Länder in denen Kinderarbeit, Korruption, Diskriminierung auf Grund von Geschlecht oder Ethnie, gefährliche und schädliche Arbeitsbedingungen oder Steuerbetrug akzeptiert und verbreitet sind. Ob jemand etwas als ethisch vertretbar empfindet und bewertet, hängt also immer von den aktuellen Werten, Normen und der Kultur dessen ab, der auf Führung blickt.

Jetzt sind all die oben geschilderten Praktiken nicht spezifisch auf den engeren Kontext der tatsächlichen Mitarbeiterführung gerichtet. Sie kommen bei Führungskräften vor, genauso wie sie bei Gruppen oder einzelnen Menschen vorkommen. Es sind allgemeine ethische Fragestellungen. Im weiteren geht es daher um führungsspezifische ethische Fragestellungen.

Führungsethik: Toxische Führung

Welche ethische Herausforderungen gibt es spezifisch bei der Führung von Mitarbeitern? Auch der tägliche Umgang mit den Mitarbeitern kann offensichtlich gegen verbreitete Werte in unserem Kulturraum verstoßen. Viele Menschen kennen Führungskräfte, die ihre Machtposition gegenüber Mitarbeitern missbrauchen, leiden vielleicht selbst unter solchen Vorgesetzten. Man spricht von „abusive supervision“ (Tepper, 2007). Konkret geht es um toxische Führung mit Verhaltensweisen wie

  • Anschreien,
  • Lächerlichmachen,
  • Einschüchtern,
  • tagelanges Ignorieren,
  • Leistungen anderer für sich zu reklamieren und
  • eigene Fehler auf die Mitarbeiter zu schieben.

Diese Art der Führung führt zu immensen Schäden, alleine in den USA über 20 Milliarden Dollar jährlich (Tepper et al., 2006) – unter anderem durch Demotivation, Kündigung und Abschrecken von guten Bewerbern.

Forschungsbeispiel: Ethische Führung vorhersagen? Persönlichkeitsmerkmale und ethische Führung

Und natürlich findet unethisches Verhalten an der Spitze Nachahmer weiter unten. Führungskräfte wirken hier als schlechte Vorbilder und verbreiten eine Kultur unethischen Verhaltens (Hinrichs, 2007).

Auf dieser Ebene der dunklen Seite von Führung wird man mit den meisten Personen (wohlgemerkt: in unserem Kulturkreis) nicht lange diskutieren müssen, sie halten das relativ übereinstimmend für unethisch – zumindest, wenn sie sich öffentlich dazu äußern.

Der nächste Abschnitt unterstreicht nochmal, dass eine Diskussion zu Führung und Ethik auch auf einer viel tieferen Ebene stattfinden sollte.

Ethische Führung: Worum es geht

Führungsethik wird oft auf einem sehr trivialen Niveau diskutiert. Das spiegelt sich in Aussagen wie „Ethische Führung hält sich an die Gesetze!“. „Ach wirklich? Gut, dass das jemand den Führungskräften sagt, das hätten die gar nicht gewusst!“ könnte man ironisch darauf entgegnen. In so fern wollen wir uns hier nur knapp damit aufhalten, ob Korruption in Ordnung ist, Mobbing akzeptabel oder ob es ethisch vertretbar ist, die Umwelt vorschriftswidrig zu schädigen, indem man toxische Stoffe in das Abwasser leitet, nur um ein paar Euro für die Firma zu sparen. Diese Punkte sind bei den meisten Menschen in unserer Kultur mit einer halbwegs gesellschaftsfähigen Wertebasis unstrittig. Ja, all das ist wichtig und ethisch relevant – aber ethische Führung verlangt viel mehr.

Führung eröffnet in der Praxis ethische Fragen auf einem tieferen Blickwinkel. Im Weiteren geht es daher um Fragestellungen im Verhalten von Führungskräften innerhalb des legalen und gesellschaftlich akzeptierten Bereiches. Und wir werden sehen, dass es darauf meist keine platten Antworten im Sinne eines ethisch „richtig“ oder „falsch“ gibt. Viel mehr hat es mit Werten zu tun, nach denen Führungskräfte handeln und die sie unterschiedlich priorisieren. Beispielsweise geht es darum, ob man das Interesse von einzelnen Mitarbeitern priorisiert oder dem der „Vielen“ Vorfahrt gibt. Jetzt werden manche sagen: „Das muss doch kein Widerspruch sein, man kann doch beides beachten!“ Ja, das mag in manchen Situationen gehen. Aber sind wir ehrlich: „Come on. Glaubst Du wirklich, man kann immer alle Werte gleichberechtigt verfolgen?“. Anders ausgedrückt: In diesem Kapitel wird es auch nicht um die naive und praxisferne Vorstellung gehen, dass man immer alle Werte und Interessen gleich erfüllen kann und das eine dem anderen ja nie widerspricht. Ethik hat am Ende mit Entscheidungen zu tun: „Welchen Weg willst Du gehen?“ Und jede Entscheidung für einen Weg wird manchen Menschen und Interessen schaden – und anderen nutzen.

Die folgenden Abschnitte blicken daher tiefer. Der nächste zeigt, wie sehr auch ganz alltägliche, scheinbar harmlose Führungsentscheidungen mit Ethik verknüpft sind.

Ethisch führen im Alltag

Der erste Teil des Kapitel hat sich mit Extremverhalten befasst. Wie kann man im normalen Alltag als Führungskraft ethisch führen? Ein tieferer Blick auf das Tagesgeschäft von Führungskräften ist für ethische Fragen noch interessanter als extremes Ausnahmeverhalten. Führungskräfte treffen einfach alltägliche Entscheidungen, die Auswirkungen haben auf andere Menschen, die Organisation und das Umfeld, in dem eine Organisation eingebettet ist. Sie treffen z.B. über folgende Punkte ethische Führungsentscheidungen:

  • Welche Instrumente und Techniken setze ich ein, um Mitarbeiter zu beeinflussen?
  • Wer ist für welche Aufgaben verantwortlich?
  • Wie, wann und in welchem Umfeld finden welche Arbeitsprozesse statt?
  • Welche Ziele gibt es – und welche nicht?
  • Wer erhält wann Zugang zu welcher Information?
  • Wie finden Entscheidungen statt, wer ist wie weit eingebunden?
  • Nach welchen Prinzipien werden Ressourcen verteilt?
  • Wie fühlen sich Mitarbeiter am Arbeitsplatz, welches Klima herrscht dort?
  • Welche Normen und Regeln gelten, welches Verhalten ist normal im Team?
  • Wer ist dabei, wen stellen wir ein, wer wird entlassen?
  • Wer kommt in welches soziale Umfeld?
  • Wem verspreche ich was bzw. welche Erwartungen wecke ich bei Menschen?

Bei solchen Entscheidungen ist es schon komplizierter als bei den Verhaltensweisen aus dem Beginn des Kapitels. Soll ich beispielsweise Führungstechniken einsetzen, die meine Mitarbeiter nicht durchschauen? Wer bekommt eine Aufgabe, mit der er sich schnell entwickeln kann, wer bekommt andere Aufgaben, die auch getan werden müssen? Anhand von welchen Kriterien stelle ich Menschen ein, befördere ich Mitarbeiter, entlasse diese?

Welche ethischen Maßstäbe sollen hier gelten, welche Sichtweisen gibt es? Führungskräfte zeigen bei diesen hier aufgelisteten Alltagsentscheidungen sehr große Unterschiede. Und oft kann man nicht solide begründet sagen: „Dieses Verhalten ist jetzt ethisch, dieser Ansatz, jene Prinzipien sind richtig!“

Dieser Herausforderung nähert sich der nächste Abschnitt mit einem Modell zu ethischer Führung.

Definition: Ethische Führung als Modell

Warum ist es jetzt so schwer bzw. nicht möglich, verbindlich zu sagen, welches Führungsverhalten ethisch ist und welches nicht? Das sieht man gut am Modell der Führungsethik in der Abbildung.

Führungsethik: Ob Führung ethisch ist, hängt von den Werten des Betrachters ab

Ethische Führung berührt insbesondere drei Aspekte von Führungsverhalten (vgl. Yukl, 2013, S. 329):

  • die Ziele, die jemand verfolgt
    (Steht beispielsweise das Interesse des einzelnen Individuums oder das der Gemeinschaft als Ziel im Vordergrund? Dazu kommt weiter unten ein eigener Abschnitt.)
  • die Mittel, die diese Person einsetzt
    (Die wirksamsten Führungsansätze fußen oftmals auf nicht durchschaubaren Techniken. Beispeiseweise die transformationale Führung. Dazu später ein eigener Abschnitt.)
  • die Ergebnisse und Auswirkungen der Führung

Ob jetzt ein konkretes Ziel, ein bestimmtes Mittel oder eine Auswirkung von Führungsverhalten ethisch ist, hängt dann ganz vom subjektiven Wertesystem des Betrachters ab. Es gibt keinen objektiven, allgemeingültigen, neutralen Maßstab für ethisches Verhalten (Heifetz und Heifetz, 1994). Daher gibt es auch in verschiedenen Kulturen und Subkulturen sehr unterschiedliche Wertesysteme, auf die sich die einzelnen Mitglieder mehr oder weniger verständigt haben.

In so fern kann man ethische Führung auch gut definieren.

Führung wird dann als ethisch erlebt, wenn ihre Ziele, Mittel und Auswirkungen mit dem subjektiven Wertesystem der bewertenden Person(en) konsistent sind.

Es ist klar, dass sich viele eine allgemein verbindliche, konkrete Wertebasis wünschen, die für alle Menschen gilt. Von dieser aus könnte man dann auch so etwas wie eine allgemein verbindliche Führungsethik ableiten. Sie sagen „Es muss doch Regeln geben, die für alle Führungskräfte gelten, weltweit und für immer!“ So eine allgemein verbindliche Wertebasis ist aber nicht in Sicht, zu verschieden sind Menschen, Kulturen und Zeitalter. In so fern gibt es auch aktuell nicht so etwas wie allgemein gültige Führungsethik. Und es wäre – nebenbei bemerkt – auch ethisch fragwürdig, anderen Menschen eine Ethik aufzuzwingen, die für jeden zu gelten hat.

Weiter geht es mit ethischen Dilemmata bei der Führung von Mitarbeitern.

Ethische Dilemmata bei der Mitarbeiterführung

Eine klare Wertebasis zu haben, ist nur ein erster Schritt in Richtung ethische Führung. Häufig sind diese einzelnen Werte in der Praxis nicht gleichzeitig zu berücksichtigen. Man muss dann sozusagen einzelnen Werten Vorfahrt geben, Priorisieren, zu manchen Werten manchmal „nein“ sagen, damit man andere Werte besser berücksichtigen kann. Ethische Dilemmata bei der Führung treten also dann ein, wenn das Berücksichtigen eines Wertes einen anderen Wert in der Wertebasis gefährdet. Konkret könnte etwa der Wert „keine Techniken einsetzen, die Mitarbeiter nicht durchschauen“ mit dem Wert „Zufriedene und gebundene Mitarbeiter“ in Konflikt sein. Ethische Dilemmata ergeben sich dabei tatsächlich vor allem in drei Bereichen (vgl. Yukl, 2013, S. 330 ff.): Erstens der Priorisierung der Interessen von verschiedenen Gruppen, die eine Entscheidung betrifft; zweitens dem Verzerren von Informationen, um Menschen in eine bestimmte Richtung zu motivieren; drittens dem Einsatz von (manipulativen) Techniken, die Beeinflusste nicht durchschauen.

  1. Wessen Interessen haben bei Führungsentscheidungen Vorfahrt? Klassischerweise sieht man Manager oft als verlängerten Arm der Eigentümer von Unternehmen, die deren Profit maximieren. Wie ist es aber, wenn Profitinteressen gegen die Interessen von Mitarbeitern stehen – etwa dem Interesse an einem Arbeitsplatz, Schutz der Gesundheit und fairer Bezahlung? Es besteht die Gefahr, dass mächtige Interessengruppen Druck auf Führungskräfte ausüben, um ihre Interessen auf Kosten anderer durchzudrücken (Jones et al., 2007).
  2. Verzerrung der Informationsbasis von Beeinflussten. Sollte eine Führungskraft ganz transparent und realistisch über eine Situation, Risiken und Chancen informieren – ­selbst wenn sie weiß, dass mit einer optimistischeren Perspektive (positiv verzerrte Informationsbasis) die Motivation höher ist und Ziele eher erreicht werden? Ist es legitim, eine Gefahr zu betonen, um Angst zu schüren und Verhalten zu beeinflussen? Darf man bestimmte Informationen ausblenden, indem man verhindert, dass sie erhoben oder verbreitet werden?
  3. Einsatz nicht durchschaubarer Techniken. Ist es beispielsweise per se unethisch, Techniken der Beeinflussung einzusetzen, die Mitarbeiter nicht durchschauen? Was aber, wenn diese Mitarbeiter viel glücklicher sind als Mitarbeiter, die man ganz transparent und klar führt? Und was, wenn es doch für einen scheinbar „guten Zweck“ ist?

Auf diesen tieferen Betrachtungsebenen ist es also alles andere als einfach, überzeugende und verbindliche ethische Standards zu finden.

Im nächsten Abschnitt folgt ein konkretes Praxisbeispiel, das dem dritten hier geschilderten Punkt entspricht: Dem Einsatz nicht durchschaubarer Techniken. Dieses Beispiel zeigt, wie schwer eine ethische Bewertung von Verhalten in der Praxis tatsächlich ist.

Transformationale Führung als ethisches Dilemma

Ein Konzept von Führung, das viele positiv sehen, ist Transformationale Führung (Bass, 1985; Bass und Riggio, 2006; Moss, 2009). Bei dieser Form der Führung geht es letztlich um die zielgerichtete Beeinflussung von Personen innerhalb von Organisationen durch eine tiefgreifende Veränderung dieser Personen selbst zu begeisterten Anhängern. Und oberflächlich betrachtet sieht das auch sehr gut aus. So zeigen sich folgende Wirkungen auf Mitarbeiter:

  • eine höhere Arbeitsmotivation (Aryee et al., 2012),
  • mehr Kreativität (Shin und Zhou, 2007),
  • Engagement über den eigenen Tätigkeitsbereich hinaus (Sosik, 2005),
  • stärkeres Vertrauen in und höhere Zufriedenheit mit der Führungskraft (Podsakoff et al., 1990),
  • ein höheres Commitment (Barling, Weber und Kelloway, 1996),
  • höhere Leistung als traditionell geführte Mitarbeiter (z.B. MacKenzie, Podsakoff und Rich, 2001; Gong, Huang und Farh, 2009; Avolio, 2010) und
  • verbesserte Leistung auf Teamebene (Lim und Ployhart, 2004).

Glücklichere, kreativere und motiviertere Mitarbeiter also. Wer sollte da Einwände haben? Und tatsächlich gibt es auch kaum kritische Stimmen zu diesem Führungsansatz.

Wo ist also das ethische Dilemma? Dieses zeigt sich, wenn man die Techniken betrachtet, mit denen diese Transformation der Mitarbeiter geschieht – und diese sind kritikwürdig (White und Wooten, 1983). Transformationale Führung baut insbesondere auf folgende Techniken (Bass, 1985; Bass und Riggio, 2006; Moss, 2009):

  1. Inspirierende Motivation. Transformationale Führung arbeitet mit emotionalisierenden und ambitionierten Visionen der Zukunft. Mitarbeiter empfinden ihre Arbeit dann als bedeutsamer und haben eine höhere Motivation (Bono und Judge, 2003).
  2. Idealisierter Einfluss. Transformationale Führung vermittelt Bedeutsamkeit und Sinn hinter einer Tätigkeit, weit über den simplen Eigennutz der Mitarbeiter hinaus (May, Gilson und Harter, 2004). Dazu gehört etwa die Ideologie von religiösen oder politischen Bewegungen. Auch einige Führungskräfte in der Wirtschaft versuchen, eine kollektiv sinnstiftende Beschreibung der Tätigkeit zu entwickeln, die Mitarbeiter emotional anspricht und zu hoher Identifikation und Motivation führt (Babcock-Roberson und Strickland, 2010).
  3. Intellektuelle Stimulierung. Um die tiefgreifenden Veränderungen im Denken der Mitarbeiter zu erreichen, regt transformationale Führung immer wieder dazu an, bestehende Denkmodelle, Normen und Sichtweisen in Frage zu stellen. Hier ist Elon Musk ein illustratives Beispiel, indem er es schafft, Menschen von ihren Gewissheiten, was möglich ist, zu befreien – sei es bei Autos (Tesla), Raumfahrt (SpaceX) oder Bahnverkehr (Hyperloop).

Diese Techniken sind offensichtlich alle als manipulativ einzustufen. Sie sind für die einzelnen Mitarbeiter nicht durchschaubar, greifen aber tief in die Art und Weise ein, wie sie denken, was sie wollen, wie sie sich fühlen und wie sie die Welt erleben. Nur: Nicht selten sind es sogar die selben Personen, die transformationale Führung begrüßen und praktizieren – die aber gleichzeitig sagen: „Manipulative Techniken als Führungskraft? Das geht gar nicht!“ Einfach, weil sie sich nicht genug beschäftigen mit dem, was sie tun.

Und dieses Dilemma ist auch nicht einfach zu ändern, etwa indem die Führungskraft manipulative Techniken offen anspricht nach dem Motto: „Hey Leute, ich beschreibe Euch gleich eine ganz tolle und emotionale Vision der Zukunft, was wir alles erreichen können, wie super erfolgreich jeder von uns sein wird und warum wir eine Elite sind. Das wird Euch emotional berühren, Identifikation mit mir und unserer Aufgabe herstellen, Euch das Gefühl geben, an etwas sehr sinnvollem mitzuwirken – und Ihr werdet dann härter für mich arbeiten!“ In so einem Fall wäre der Erfolg der Technik sehr fraglich, denn ihre Anwendung basiert darauf, dass die Betroffenen sie nicht durchschauen.

Worum geht es in diesem Beispiel grundlegend? Gehen wir in die Vogelperspektive. Im Hintergrund geht es um eine Abwägung von Werten. Was ist mehr wert: Ergebnisse wie Glück, Sinnerleben, Hingabe der Mitarbeiter und Erfolg – oder Formalismus, das Prinzip keine manipulativen, nicht durchschaubaren Techniken bei der Führung anzuwenden? Was also, wenn die manipulativen Techniken die wirkungsvollsten sind, die wir kennen? Und wie könnte irgendeine umfassende, notwendige Veränderung der Organisation stattfinden, wenn man nicht die grundlegenden Überzeugungen und Ideen der Mitglieder und ihre Emotionen beeinflusst? Was wenn ich auf diese Techniken verzichte aber mein Wettbewerber sie einsetzt – und gewinnt? Welches Verhalten ist hier richtig? Das sind die wirklichen ethischen Fragen, mit denen Führungskräfte konfrontiert sind – und sie sind schwer zu beantworten und sehr tief.

Im nächsten Abschnitt geht es um eine weitere tiefe ethische Frage, die Führungskräfte für sich beantworten sollten, um Orientierung bei ihren Entscheidungen zu bekommen.

Ethisch führen: Ziele

Ethisch führen betrifft auch die Ziele von Führung. Das verdeutlicht dieser Abschnitt, indem er unterschiedliche Werte als Ziele in der Praxis gegenüberstellt: Das Interesse des einzelnen (Individualismus) vs. das Interesse der vielen (Kollektivismus).

Spricht man mit verschiedenen Führungskräften und beobachtet deren Verhalten, dann wird es manche geben, die mehr oder weniger bewusst aus ihrer persönlichen Sichtweise einen Teil des Kodex der französischen Fremdenlegion leben und ihre „Verwundeten und Toten“ nie zurücklassen. Im Prinzip fühlen sich diese Führungskräfte verantwortlich für Mitarbeiter, die schon länger dabei sind, nette Menschen sind – aber wenig leisten. Sie stellen das Interesse dieser Individuen in den Mittelpunkt und verhalten sich aus ihrer Sicht „sozial verantwortlich“, schleppen diese „Verwundeten und Toten“ weiter mit. Vielleicht verlagern sie Produktion nicht an einen anderen Standort, obwohl die Produktivität der neuen Mitarbeiter wesentlich höher wäre. Dafür ist ihnen Anerkennung und Applaus weiter Kreise aus Gesellschaft und Politik sicher. Aber ist es wirklich so einfach? Ist das ethisch richtig, wofür einem der größte Applaus der breiten, unreflektierten und relativ ahnungslosen Masse sicher ist?

Wenn man mit Führungskräften vertraulicher redet, dann werden gerade die erfolgreichen oft ganz andere Grundsätze haben. Sie drücken das vielleicht in Sätzen aus wie „Ein Schwarm Zugvögel kann nur so schnell in den Süden fliegen, wie der langsamste Vogel.“ Man stößt dann auf Führungskräfte, die sich von Mitarbeitern trennen, obwohl diese sogar durchschnittliche Leistungsergebnisse liefern – weil ihnen diese Mitarbeiter immer noch nicht genug Hingabe und Enthusiasmus zeigen, weil sie als Anführer noch höhere Ansprüche haben, eine besondere Kultur im Team wollen. Diese Anführer haben beobachtet, wie einzelne Mitarbeiter mit einem „falschen Mindset“ eine Wirkung auf die anderen entfalten, Arbeitsmoral und Einstellung zu Kunden und Qualität untergraben. Einfach weil sie da sind und andere sie sehen, hören was sie von sich geben, und sich an ihr Verhalten anpassen. Das sind Anführer, die das Ziel, für alle eine bestimmte Unternehmenskultur zu schaffen, über die Interessen des Individuums stellen. Sie sind bereit, die Interessen einzelner Mitarbeiter zu opfern, um die anderen und die übergeordneten Ziele vor dem Einfluss dieser Personen zu schützen. Sie setzen das Kollektiv höher, als den Einzelnen. Ihr Blickwinkel auf leistungsschwache Mitarbeiter ist deshalb anders. Sie sehen keine „Verwundeten“, die man nicht zurück lässt, sie sehen stattdessen Disziplinlosigkeit und mangelnden Ehrgeiz. Und sie trennen sich von Mitarbeitern mit ungeeigneten Einstellungen – auch wenn diese nette Kerle sind – um die Kultur im Unternehmen und die anderen Mitarbeiter vor ihrem Einfluss zu schützen.

Um Führungskräften Orientierung zu bieten, beginnen Organisationen Ethikprogramme aufzubauen. Darum geht es im nächsten Abschnitt.

Ethikprogramme in Organisationen

Unternehmen und politische Organisationen stehen unter ethischem Druck von außen. Und sie versuchen auch aus eigenem Antrieb, ethisches Verhalten zu stärken. Die Folge sind oft zentrale Ethikprogramme. Typische Maßnahmen sind:

  • Eine Ethikkommission, die das Management und Führungskräfte bei der Ausarbeitung und Aktualisierung nachfolgend genannter Maßnahmen unterstützt. Sie dient als Ansprechpartner für ethische Fragestellungen und fördert die Umsetzung von ethischen Prinzipien. Dabei setzt sie auf Kommunikation, Sensibilisierung und Trainings.
  • Ausarbeitung eines Ethikkodex, der Verhaltensrichtlinien zum Umgang mit ethischen Situationen beinhaltet.
  • Führungsleitlinien, die sich direkt aus dem Ethikkodex ableiten.
  • Methoden um ethisches Verhalten zu evaluieren (etwa Führungsfeedbacks bei denen Mitarbeiter das Verhalten ihrer Führungskräfte beschreiben).
  • Anonyme Kontaktmöglichkeiten bei ethischen Bedenken und zur Meldung möglicher Verstöße.
  • Möglichkeiten zur Sanktion und Beseitigung von ethischem Fehlverhalten bzw. entsprechenden Personen.

Die Ausarbeitung einer Ethik, die erstens zur Kultur eines Unternehmens passt, zweitens mit den Geschäftsfeldern harmonisch ist und drittens die ethischen Bedürfnisse verschiedenster Interessengruppen berücksichtigt, ist extrem herausfordernd. Das gilt insbesondere bei international aktiven Unternehmen, die in Räumen mit unterschiedlichsten Wertevorstellungen und Rechtssystemen agieren.

Oft bleiben diese Programme daher auf einem sehr oberflächlichem Niveau stehen, frei nach dem Motto: „Was wollen wir nicht, dass in der Zeitung steht über unser Unternehmen?“ Manchmal geht es noch etwas vorauseilender nach dem Prinzip: „Was würde der Mainstream-Meinungsmaschine gefallen?“ Eine wirklich tiefe ethische Diskussion und Ausarbeitung zusammen mit den betroffenen Führungskräften ist daher sinnvoll, wenn man etwas möchte, was über Trivialität hinaus geht und wirkliche Orientierung bietet.

Der daraus entstehende Druck auf Führungskräfte, bestimmte ethische Prinzipien zu übernehmen, kann groß sein: Unternehmen definieren ethische Richtlinien für ihre Führungskräfte, promoten Vorbilder, die sich entsprechend dieser Regeln verhalten, nehmen teilweise ethisches Verhalten in die Leistungsbewertungen auf und sanktionieren Führungskräfte, die von den Richtlinien abweichen.

Für Führungskräfte ist also der einfache und bequeme Weg zu ethischer Führung, sich einfach anzupassen. Anzupassen an die Erwartungen und Vorgaben der Mächtigen, der Ethikkommissionen, der Medien, der Führungsleitlinien. Dafür gibt es gute Gründe, es ist nichts verwerfliches daran. Das Leben wird dadurch leichter, man spart sich viel Nachdenken und kann sich ziemlich sicher sein, dass es keine unangenehmen Fragen gibt und man nirgends aneckt. Alles gut. Dieser Ansatz ist letztendlich ein fremder Weg zu ethischer Führung, den man geht – ein von außen bestimmter Weg.

Welchen Weg, außer diesem bequemen, gibt es noch? Weiter geht es mit dem harten Weg, dem Weg einen eigenen ethischen Kompass zu entwickeln und nicht einfach passiv die Vorgaben von außen zu übernehmen.

Den eigenen ethischen Kompass zur Führung entwickeln

Ethik „von oben“, Führungsleitlinien, Kommissionen, Kontrolle und Programme. Das ist nicht nur hilfreich, sondern kann auch in Gängelung und einem Überstülpen von fremden Vorstellungen münden. Was kann man als Führungskraft selbst für seine ethische Führung beitragen? Wie kann man seinen eigenen ethischen Kompass entwickeln? Möchte man diesen eigenen aber harten Weg zu ethischer Führung einschlagen, dann helfen folgende Fragen:

  1. Welches Menschenbild benutze ich bei der Führung? Wie sehen meine fundamentalen Überzeugungen aus dazu, wie Menschen funktionieren? Manche Führungskräfte sehen und behandeln ihre Mitarbeiter beispielsweise als rationale Entscheider, die nur auf Geld reagieren – und führen entsprechend.
  2. Welche Ziele verfolge ich bei der Führung? Was hat für mich höchste Priorität, im Zweifel Vorfahrt? Und gegen was würde ich mich entscheiden, wenn Ziele in Konflikt und unvereinbar sind?
  3. Welche Ergebnisse und Konsequenzen von Führung sind für mich wichtig, welche sind akzeptabel, welche sind inakzeptabel?
  4. Welche Führungstechniken sind für mich akzeptabel, welche lehne ich innerlich ab? Manche Führungskräfte lehnen es beispielsweise ab, verzerrt und selektiv Informationen an Mitarbeiter weiterzugeben – auch wenn sie damit erfolgreich zu gewünschten Verhaltensweisen „manipulieren“ könnten.
  5. Welche Verhaltensweisen möchte ich bei meinen Mitarbeitern sehen – und welches Verhalten soll ausbleiben? Diese Übung hilft einen Zielkompass zu entwickeln, die grobe Richtung zu kennen, in welche Richtung man die Kultur im Verantwortungsbereich formt.

Aus seinen Antworten auf die vorangehenden Fragen kann man viel über seine Werte erfahren. Indem man sich diese Fragen regelmäßig stellt, entwickelt man innere Festigkeit und Orientierung bei ethischen Entscheidungen – einen ethischen Kompass.

Das Kapitel hat gezeigt: Führungskräfte laufen große Gefahr, fertige „mentale Kisten“ zu übernehmen, anstatt kritisch zu denken und sich eine eigene Ethik zu entwickeln. Der Anspruch „Think outside of the box!“ ist immer schwieriger zu schaffen – auch für Führungskräfte. Das zeigt der folgende Schaukasten.

Perspektive: Freiheit oder ein Leben in der Kiste?

Der letzte Abschnitt gibt Literaturhinweise zur weiteren Vertiefung.

Ethische Führung: Literatur und Bücher

Aktuelle Literatur-Tipps zu Führungsethik.

Tipp
Lehrhandbuch zu Ethik und Führung
  • SEGURA NUÑEZ, PATRICIO (Autor)
Tipp

Das nächste Kapitel hat viel mit Ethik zu tun. Es behandelt die Menschenbilder, mit denen Führungskräfte führen.