Was lässt manche Menschen vollkommen über sich hinauswachsen, härteste Krisen überstehen und viel effektiver und glücklicher werden – während andere in schlechten Beziehungen feststecken, vor dem Fernseher bleiben und an ihren Zielen scheitern? Das erforscht die Positive Psychologie, ein vergleichsweise modernes Gebiet der psychologischen Wissenschaft und Praxis. Ihr Fokus ist das gelungene Leben: Wie können ganz normale Menschen ihr Potenzial verwirklichen, wachsen und ein glückliches, erfolgreiches Leben führen?
Dieser Beitrag gibt eine Definition und stellt ein Beispiel vor. Er fasst die Bereiche der Positiven Psychologie in die 5 Säulen nach Martin Seligman zusammen und schildert Übungen und die Anwendung im Alltag. Der Abschluss diskutiert die häufigste Kritik.
Autor: Diplompsychologe Professor Dr. Florian Becker
Was aber, wenn Krisen auftauchen und wir innere Stärke brauchen? Was, wenn wir glücklicher als die Vielen sein wollen? Was, wenn wir nicht ziellos durch unser Leben treiben wollen, bestimmt von anderen Menschen? Was, wenn wir uns wünschen, etwas Besonderes im Leben zu erreichen, einen Sinn suchen? Die Positive Psychologie zeigt uns Wege, mit denen wir unser Potenzial im Leben verwirklichen.
In diesem Beitrag:
Was ist Positive Psychologie? Definition
Was ist Positive Psychologie? Beginnen wir mit einer einfachen Definition: Positive Psychologie fängt dort an, wo Klinische Psychologie aufhört. Die Klinische Psychologie beschäftigt sich mit psychischen Störungen, ihren Ursachen, Auswirkungen und ihrer Therapie. Doch nur, weil keine Störung (mehr) vorliegt, bedeutet das nicht, dass Menschen ihr Potenzial gut ausschöpfen, glücklich und erfolgreich sind. Kurz gesagt: Positive Psychologie ist definiert als Psychologie für Menschen, die nicht psychisch krank sind und dennoch mehr von ihrem Potenzial verwirklichen wollen (Seligman und Csikszentmihalyi, 2014). Es ist Psychologie für Menschen, denen es nicht reicht, nur „nicht krank“ zu sein, die mehr wollen und unter psychischer Gesundheit mehr verstehen als die Abwesenheit von Krankheit. Hier eine wissenschaftliche Definition:
Der Begriff Wachstumspotenzial ist hier bewusst breit definiert. Es geht um Themen im Erleben (etwa Glücksgefühl und Selbstwertgefühl), im Verhalten (z.B. gute Gewohnheiten aufbauen und Disziplin) und in der Lebenssituation (u.a. Gesundheit, Wohlstand, Berufserfolg und gute Beziehungen mit anderen Menschen). Manche strecken die Definition auch über den Bereich einzelner Individuen hinaus, auf ganze Gruppen von Menschen (etwa deren Zusammenhalt und positive Identität) und Gesellschaften bzw. Kulturen (beispielsweise deren Selbstbewusstsein und Gesundheitszustand). Positive Psychologie definiert sich also als Wissenschaft eines gelingenden Lebens im weitesten Sinne.
Fazit: Die Wissenschaft Psychologie ist im gewissen Sinne noch unterentwickelt (vgl. Ben-Shahar, 2007). Sie sollte nicht nur eine Wissenschaft zu Krankheit, Elend und Resignation sein, sondern mindestens genauso zu Glück, Erfolg und Leidenschaft. Positive Psychologie hat daher das Ziel, die vorherrschende sehr defizit-orientierte und damit begrenzte Perspektive der Klinischen Psychologie zu erweitern. Zu den Abgründen der menschlichen Erfahrung rückt sie auch die Gipfel in den Fokus. Es soll nicht mehr allein darum gehen, Menschen zu „reparieren“, die psychisch sichtlich „kaputt“ sind. Das Ziel ist vielmehr, Personen, die schon funktionieren, noch handlungsfähiger, effektiver, stärker und glücklicher zu machen.
Die Abbildung zeigt die Definition der Positiven Psychologie und die Abgrenzung zur Klinischen Psychologie.
Das bedeutet natürlich nicht, dass Positive Psychologie nicht auch eine sehr sinnvolle Ergänzung zu Klinischer Psychologie sein kann, wenn jemand psychische Herausforderungen und Defizite bewältigen will. Diese Denkrichtung findet sich beispielsweise in ressourcenorientierten Ansätzen der Psychotherapie wieder.
Die Positive Psychologie verfolgt also den Wachstumsgedanken. Ihr Ziel sind voll handlungsfähige Personen. Damit ist sie auch eine Denkrichtung, eine Philosophie der Betrachtung des Menschen. Entsprechend fokussiert sie sich auf das Studium der erfolgreichsten, besten und glücklichsten Menschen – anstatt auf die Analyse der schwächsten, kranken und gescheiterten Individuen.
Der Schaukasten illustriert Positive Psychologie als Denkrichtung einer Wissenschaft durch den Vergleich mit dem Tuning eines Autos.
Nur weil ein Auto nicht kaputt ist, bedeutet das aber nicht, dass man es nicht „besser“ machen kann. Man kann Gewicht und Verbrauch reduzieren, Leistungssteigerungen vornehmen und die Sicherheit optimieren, etwa durch eine effektivere Bremsanlage. Viele Käufer bewerten solche Veränderungen als Verbesserung und sind bereit für entsprechendes Tuning viel Geld extra auszugeben.
Entsprechend gibt es einen riesigen Markt bei psychischen Wachstumsthemen. Einen Markt, der Selbstoptimierung und Coaching für mehr Erfolg im Leben verspricht. Die Nutzer dieser Angebote wollen nicht etwas Kaputtes reparieren, sondern etwas, das schon funktioniert, verbessern. Positive Psychologie erforscht die Bereiche, Ursachen, Auswirkungen und Möglichkeiten solcher Verbesserungen im psychologischen Bereich.
Und auch ohne Schaden oder Tuning braucht ein Auto regelmäßigen Service. So gepflegt und einsatzfähig kann das Auto zukünftige Herausforderungen bestehen und schwierige Situationen gut durchfahren. Bei Menschen nennt man diese Eigenschaft, schwierigste Situationen gut zu überstehen, Resilienz. Auch daran forscht die Positive Psychologie.
Die Geschichte der Positiven Psychologie ist jung. Ursprünglich formuliert hat den Gedanken einer Positiven Psychologie bereits 1954 Abraham Maslow (Maslow, 1954). Bis sein Gedanke ernsthaft aufgegriffen wurde, dauerte es aber noch Jahrzehnte. Den Startzeitpunkt einer wissenschaftlichen Strömung der Positiven Psychologie kann man grob auf das Jahr 2000 legen. Hier erscheinen erste wissenschaftliche Übersichten zu diesem Thema (Csikszentmihalyi und Seligman, 2000). Mit der Bezeichnung „Positive Psychologie“ gelang es bereits vorhandene verstreute Ansätze aus verschiedenen Bereichen unter einem gemeinsamen Begriff zu sammeln. Dazu gehören auch vereinzelte Ansätze aus der Psychotherapie, die den Fokus auf die Stärkung des Positiven anstelle der Bekämpfung des Negativen richten (z.B. Rogers, 1951; Vaillant, 1977; Ryff und Singer, 1996). Beispielsweise ist das Konzept „positive mental health“ ein direkter Vorläufer moderner Gedanken in der Positiven Psychologie (Jahoda, 1958).
Positive Psychologie hilft uns also, unser Potenzial abzurufen. Im Extremfall entscheidet sie über Leben und Tod. Das zeigt folgendes Beispiel.
Beispiel für Positive Psychologie: Viktor Frankl
Die Geschichte des Professors und Psychotherapeuten Viktor Frankl zeigt die Bedeutung Positiver Psychologie am Beispiel.
Entscheidend ist also nicht nur, wie eine Situation außen ist. Entscheidend ist unsere innere Haltung. Wie können wir Erfolg in unserem Inneren entstehen lassen? Es folgt eine Übung, mit der wir Sinn in Erfahrungen finden.
Viktor Frankl hat uns einen Ansatz hinterlassen, mit dem wir schwierigste Situationen besser überstehen: unsere innere Haltung. Es geht darum, einen Sinn darin zu finden. Wir können damit nahezu jede Situation in eine Leistung für uns umwandeln. Je früher wir das trainieren und lernen, desto besser überstehen wir härteste Herausforderungen, die in jedem Leben auf uns zu kommen. Im Prinzip geht das Finden von Sinn einfach. Doch viele Menschen scheitern daran, weil sie es nicht gewohnt sind, so zu denken.
Ein Beispiel: Zwei Personen erleben eine Kindheit in Armut. Die eine Person erlaubt dieser Erfahrung ihr Inneres zu kontrollieren, entwickelt die Haltung: „Ich kann gar nichts werden in meinem Leben – bei meiner Kindheit. Ich werde nie reich sein.“ Sie lässt sich von der Situation beherrschen, verflucht diese und nimmt sie sogar als Entschuldigung, jetzt und in Zukunft nichts erreichen zu können. Die andere Person findet einen Sinn in der Erfahrung und entwickelt die innere Haltung: „Ich habe gelernt mit fast nichts zu überleben und mich daraus hochgearbeitet. Ganz egal welche Bedingungen auf mich zukommen, ich kann damit umgehen. Meine Erfahrungen haben mich mental stark gemacht.“ Diese Person wächst an der schlechten Erfahrung und gewinnt Selbstbewusstsein und Stärke daraus.
Welche schwierigen Situationen gibt es bei Dir im Leben, die Du äußerlich schwer ändern kannst oder die in der Vergangenheit liegen und die Dich noch belasten? Was kommt absehbar auf Dich zu?
Stelle Dir folgende Fragen dazu:
- Was kann ein Ziel oder Sinn dieser Situation für mich sein? Für was trainiert mich diese Situation, was lerne ich daraus, was nehme ich mit? Was kann diese Situation für mich leisten?
- Welche positiven Änderungen in meinem Denken und Erleben gewinne ich aus dieser an sich negativen Situation?
- Kann ich in dieser Lage ein Vorbild sein für andere? Gibt es etwas, das ich anderen Menschen mit meiner Erfahrung hinterlassen kann, was andere lernen können von mir?
- Was wartet nach dieser Situation auf mich, auf das ich mich freuen kann?
- Wie kann meine innere Haltung aussehen, mit der ich in Würde und mit Stolz durch diese harte Situation gehe und nicht zulasse, dass sie mich auch innerlich kontrolliert und zerstört?
- Auf welche Weise kann mich diese schlimme Lage stärker machen?
Nehmen wir uns nochmal das Zitat von Viktor Frankl zu Herzen: „Es ist keine Schande, sein Ziel nicht zu erreichen, aber es ist eine Schande, kein Ziel zu haben!“ Dieses Ziel ist einen Sinn zu finden, der aus äußerlich schlimmen Situationen eine Leistung für uns macht.
In Jahrzehnten an Forschung haben sich zahlreiche Felder der Positiven Psychologie herauskristallisiert.
Anwendung der Positiven Psychologie: Bereiche
Kommen wir zur konkreten Anwendung: Positive Psychologie erstreckt sich auf alle Bereiche menschlichen Erlebens und Verhaltens, die aktuell kulturell positiv besetzt sind. Es geht also um psychologische Aspekte, die Menschen mit Glück und einem guten Leben verbinden (Peterson, 2006; Shrestha, 2016). Die Anwendung Positiver Psychologie beinhaltet die Bereiche:
- Optimismus und positives Denken
- Selbsterfüllende Prophezeiungen nutzen
- Selbstwirksamkeit, Selbstwertgefühl und Selbständigkeit
- Resilienz
- Visionen, Sinnerleben und Selbstverwirklichung
- Grenzen setzen
- effektive Ziele setzen
- Motivation
- Flow-Erleben
- gute Gewohnheiten
- Komfortzone verlassen, Wachstum, Aufbau von Stärken und Kompetenzen
- Prokrastination überwinden
- Fokus und Konzentration
- Selbstdisziplin
- Glück, Dankbarkeit und positive Emotionen
- Gesundheit, Wohlstand und gute Beziehungen
- Entspannung, Bewusstheit und Achtsamkeit
Diese Liste macht klar, dass Positive Psychologie kein abgeschlossener monolithischer Block an Inhalten und Bereichen ist. Positive Psychologie ist eine Perspektive und Denkrichtung, die sich auf Chancen anstatt auf Probleme konzentriert. Daher kommen stetig neue Bereiche und Aspekte hinzu, die Wissenschaftler damit verbinden – etwa Tugenden und Werte (Peterson, 2006).
Die positive Perspektive zeigt sich in der vollkommen unterschiedlichen Art, Fragestellungen anzugehen (Ben-Shahar, 2007). Anstelle auf das Problem zu achten, konzentriert sich Positive Psychologie auf die Chancen. Die Tabelle zeigt Beispiele für diese positive Fragestellung.
Fragestellung der klassischen Psychologie | Fragestellung der Positiven Psychologie |
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Entstanden ist dieser Blickwinkel der Positiven Psychologie aus simplen Erfahrungen (vgl. Ben-Shahar, 2007): Etwas nicht falsch zu machen, bedeutet noch lange nicht, es richtig zu machen. Nur weil eine Depression „geheilt“ ist, sind Menschen noch lange nicht glücklich. Nur weil ich alle Risikofaktoren für niedrige Bildungsleistung abstelle, sind Kinder oft dennoch nicht erfolgreich in der Schule. Nur weil man Risikofaktoren für Scheidungen beseitigt, sind viele Ehen dennoch nicht glücklich. Erst die positive Fragestellung mit dem Fokus auf diejenigen Menschen, die erfolgreich sind, gibt die entscheidenden Hinweise. Wir können sehr viel von den Stärksten, Gesündesten, Erfolgreichsten und Glücklichsten lernen. Oft eröffnen sie uns die entscheidenden Zusammenhänge, gehen als leuchtende Beispiele voran. Lernen wir also, nicht nur die Probleme zu benennen und zu bekämpfen, sondern mindestens so sehr das Gute, Starke und Erfolgreiche zu beachten, davon zu lernen, es zu fördern und zu multiplizieren.
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von Diplompsychologe Prof. Dr. Florian Becker
Zur Anwendung Positiver Psychologie erforschen Psychologen die oben genannten Bereiche. Sie entwickeln und testen Maßnahmen, die Menschen helfen, ihr Potenzial auszuschöpfen. Der Schaukasten zeigt typische Methoden der Positiven Psychologie.
Damit Menschen bei wichtigen Lebensthemen vorankommen und ihr Potenzial entfalten, haben Wissenschaftler der Positiven Psychologie bestimmte Maßnahmen, Interventionen und Methoden entwickelt und getestet (Sin und Lyubomirsky, 2009; Bolier et al., 2013). Dazu gehören:
- Training optimistischen Denkens
- Erinnern und Visualisieren positiver Erfahrungen (z.B. als Erfolgstagebuch)
- Wachrufen von Erfahrungen und Tatsachen für die man dankbar ist (Lyubomirsky et al., 2011)
- Meditation und Achtsamkeit (Josefsson et al., 2011)
- Entwicklung einer positiven Vision der eigenen Zukunft (King, 2001)
- Setzen von wirksamen Zielen
- Abbau von schlechten und Aufbau von guten Gewohnheiten
- Optimierung von Aufgaben für ein Flow-Erleben
Die Auflistung der verschiedenen Bereiche und Maßnahmen zeigt: Positive Psychologie ist ein sehr vielfältiges Forschungsgebiet. Einige Wissenschaftler haben daher Modelle entwickelt, um die vielfältigen Anwendungsfelder der Positiven Psychologie zusammenzufassen. Eines davon zeigt der nächste Abschnitt.
Positive Psychologie im PERMA-Modell: 5 Säulen nach Seligman
Der Psychologe Martin Seligman hat Positive Psychologie als Modell dargestellt (Seligman, 2012). Er fasst in seinem PERMA-Modell wesentliche Bereiche in 5 Säulen der Positiven Psychologie zusammen:
- Positive Emotionen (positive emotions). Hier geht es nicht nur um die Abwesenheit negativer Emotionen. Ziel ist es, den Anteil verschiedener positiver Emotionen im Leben zu stärken, wie etwa Stolz, Glück, Zufriedenheit, Entspannung und Begeisterung. Wichtige Themen sind hier Optimismus und positives Denken.
- Motivation (engagement). Die zweite Säule beschreibt, dass Menschen Aufgaben im Leben haben, die sie mit Leidenschaft tun, bei denen sie ein Flow-Erleben bekommen, Raum und Zeit vergessen, in ihrer Tätigkeit voll aufgehen (Csikszentmihalyi, 1975). Um Motivation herzustellen, brauchen Menschen Selbstbewusstsein, Fokus und Konzentration und wirksam formulierte Ziele.
- Gute Beziehungen (relationships). Menschen sind soziale Wesen. Wir profitieren von guten zwischenmenschlichen Beziehungen in verschiedensten Bereichen: Freundschaften, Liebesbeziehungen, Partnerschaft und Familie, berufliche und private Netzwerke, Einbettung in Nachbarschaft, Vereine, Kirchen und Gemeinden. Wichtige Forschungsfelder dazu sind Sympathie, Vertrauen und das Setzen von Grenzen gegenüber „vereinnahmenden“ Personen. Insbesondere über die Selbsterfüllende Prophezeiung formen wir unsere sozialen Beziehungen unbewusst – und oft nimmt das leider eine falsche Richtung.
- Sinnerleben (meaning). Empfinden wir eine tiefere Bedeutung bei unseren Aktivitäten und im Leben generell? Tatsächlich ist das Sinnempfinden ein von Psychologen bereits seit langem beachteter Aspekt, beispielsweise bei der psychologischen Arbeitsgestaltung (Hackman und Oldham, 1976). Eine wichtige Rolle spielen dabei die Lebensziele von Menschen. Komme ich meiner Lebensvision näher, lebe ich meinen Traum? Habe ich überhaupt Träume? Oder reagiere ich passiv auf Anforderungen von außen und lebe nach dem Drehbuch von anderen.
- Erfolgserlebnisse (accomplishments). Dieser Punkt ist sehr breit ausgelegt. Es geht um Erfolg im Sinne von neu erworbenen Kompetenzen und Wachstum in jedem wichtigen Bereich des Lebens (Beziehungen, Finanzen, Bildung, Gesundheit, Selbstwertgefühl, Beruf, …). Erfolg basiert unter anderem auf Selbstdisziplin, dem Verlassen der Komfortzone und guten Gewohnheiten.
Seligman hat das Akronym PERMA entwickelt, um die fünf Säulen Positiver Psychologie zu kommunizieren: Positive Emotions, Engagement, Relationships, Meaning, Accomplishments.
Es ist klar, dass diese Bereiche in starker Wechselwirkung miteinander stehen. Oft finden sich selbstverstärkende Kreisläufe: Etwa führen Motivation und gute Beziehungen zu mehr Berufserfolg, mehr Berufserfolg wieder zu mehr Motivation, besseren sozialen Netzwerken mit guten Beziehungen etc. Oder positive Emotionen führen zu mehr Beliebtheit und damit besseren Beziehungen und das wieder zu besseren Emotionen. Und einige Themen der Positiven Psychologie sind auch komplett übergreifend mit allen fünf Säulen des Modells verbunden: etwa Resilienz. Diese engen Verbindungen verdeutlicht die Abbildung mit dem Symbol des Kreises.
Ich sehe bei mir eher wenig Potenzial, das ich ausschöpfen kann – andere sind klüger, attraktiver, fleißiger, beliebter… Lohnt sich Positive Psychologie für mich überhaupt?
Ja. Umso mehr. Aus meiner Erfahrung ist nicht in erster Linie ausschlaggebend, wie viel Potenzial Menschen theoretisch haben, sondern entscheidend ist, wie viel davon sie praktisch ausschöpfen. Nochmal: Es geht nicht darum, wie viel Potenzial Du hast, sondern darum, wie viel Du davon verwirklichst! Man kann wunderbar beobachten, wie Menschen sprichwörtlich über sich hinaus wachsen.
Ein gutes Beispiel ist die isländische Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft in Fußball 2016. Island: ein Land mit unter 400.000 Einwohnern, weniger als eine Stadt wie Nürnberg. Die Spieler: unbekannt. Der Trainer: unbekannt. Alle mit kaum aussprechbaren Namen. Egal. Die isländische Mannschaft überstand nicht nur die Vorrunde ohne verlorenes Spiel und spielte dort gegen den späteren Europameister Portugal unentschieden – wir reden wohlgemerkt von Gegnern wie Cristiano Ronaldo. Die isländische Nationalmannschaft wuchs vollkommen über sich hinaus, wurde selbst für starke Gegner unaufhaltsam. Das gipfelte darin, dass sie die englische Nationalmannschaft im Achtelfinale aus dem Turnier warf – England, ein fußballfanatisches Land mit über 55 Millionen Einwohnern und weltbekannten Fußballspielern. Wenn wir das Potenzial anschauen, dann hatte natürlich die englische Nationalmannschaft ein viel größeres Potenzial. Aber sie haben es nicht realisiert. Und das isländische Team hatte ein viel kleineres Potenzial – aber sie haben es ausgeschöpft.
Stell Dir Dein Potenzial vor wie ein Trinkglas. Je mehr Wasser darin ist, desto mehr hast Du von Deinem Potenzial ausgeschöpft. Die meisten Menschen blicken nur auf das „Glas“, wie groß es ist. Entscheidend ist aber wie viel Wasser in einem Glas ist, nicht wie groß das Glas theoretisch ist. Vielleicht ist Dein Glas nicht sonderlich groß? Nicht so wichtig. Das war es bei der isländischen Nationalmannschaft auch nicht. Aber sie haben ihr Potenzial ausgeschöpft. Das ist am Ende entscheidend im Leben.
Ich weiß, das ist erstmal schwer zu glauben. Doch Du kannst das überall sehen: Angelt sich das hübscheste und netteste Mädchen mit dem meisten Potenzial den Traumprinzen? Hat Kate Middleton etwa das meiste Potenzial gehabt und deswegen Prinz William geheiratet? Ist Angela Merkel CDU-Chefin und dann Bundeskanzlerin geworden, weil sie das meiste Potenzial hatte? Nein. Schau Dir alte Videos von ihr an. Sie ist klein, unscheinbar, war im Auftreten extrem unsicher, konnte nicht gut formulieren, hatte eine katastrophale Körpersprache und Stimme, ist dem Durchschnittsbürger als „verkopfte“ promovierte Akademikerin aus der ehemaligen DDR sehr unähnlich und ist zudem eine Frau. All das ist nicht günstig, wenn Du eine Führungsposition anstrebst. Und sie hat es dennoch geschafft, hart an sich gearbeitet, ihr Potenzial verwirklicht. Haben die intelligentesten Schüler und Studenten zwingend den besten Abschluss und Erfolg im Leben? Ich sehe jeden Tag: nein. Andere, die hart an sich arbeiten, gute Gewohnheiten und Disziplin aufbauen, klare Ziele haben, outperformen diejenigen, die all das nicht machen.
Und schließen wir den Bogen wieder zum Fußball. Sicher hast Du schon mal von Lionel Messi gehört als einem der besten Fußballer der Welt. Was Du aber wahrscheinlich nicht weißt: Er hatte verdammt wenig Potenzial. Er war schon als Kind schwer krank, kleinwüchsig aufgrund einer Hormonstörung. Seine Eltern waren bitter arm, konnten ihm keine teure Behandlung finanzieren. Schlechte Karten für das Leben also. Viele hätten aufgegeben, resigniert. Doch Messi hat es dennoch geschafft, fanatisch trainiert, wurde als Kind entdeckt und bekam mit 13 Jahren einen Vertrag beim FC Barcelona – und damit auch die nötigen Medikamente. Heute ist er erwachsen – und dennoch kaum größer als 1,60 Meter. Lässt er sich dadurch auch nur irgendwie aufhalten, sein Potenzial zu verwirklichen, seine Träume zu verfolgen? Nein! Er ist, was das anbelangt, ein Vorbild für uns alle.
Die meisten Menschen haben überhaupt keine Vorstellung davon, wie viel Potenzial in ihnen steckt, wie effektiv sie sein könnten. Sie ahnen nicht im Entferntesten, was für ein Mensch sie in ein paar Jahren sein können, wenn sie damit anfangen, ihr Potenzial systematisch auszuschöpfen. Und deshalb entwickeln sie sich nicht, betäuben sich mit anderen Aktivitäten – beispielsweise verbringen Deutsche im Durchschnitt jeden Tag über fünf Stunden nur mit Fernsehen, Videostreaming und Computerspielen. Das sind fast 2.000 Stunden im Jahr, 250 volle Arbeitstage.
Was hätten sie mit dieser immensen Zeit erreichen können? Sie gucken Inhalte, die ihnen meist weder wichtig sind noch irgendetwas zu ihrer positiven Entwicklung beitragen – und sie fühlen sich nachher sogar schlecht damit, dass sie diese Inhalte angesehen haben. Die meisten wissen, dass sie etwas anderes hätten tun können und sollen. Dennoch bleiben sie weiter in ihrer Komfortzone und werden jeden Tag kleiner.
Wenn Du Dein Potenzial also nutzt, nur einen Teil dieser Zeit dafür einsetzt, dann ist es leicht, all diese „normalen“ Personen out-zu-performen. Bei weitem. In fast jedem Bereich, den Du Dir aussuchst. Es ist allein Deine Entscheidung. Was für ein Mensch willst Du sein? Welche Art von Leben, soziale Beziehungen, Gesundheit, Wohlstand, Sinnerleben, positive Emotionen, Erfolgserlebnisse möchtest Du in fünf Jahren haben? Und was möchtest Du den Menschen in Deinem Umfeld anbieten? Möchtest Du sie stärker machen und inspirieren? Oder willst Du sie mit Dir nach unten ziehen?
Deswegen gilt: Gerade wenn Du Dein Potenzial als nicht so groß einschätzt, solltest Du das, was Du hast, umso entschlossener verwirklichen. Und wer weiß: Vielleicht hast Du keine Vorstellung davon, wie viel Du in zehn Jahren erreichen kannst? Vielleicht siehst Du zu wenig Deine Stärken? Vielleicht unterschätzt Du Dich massiv? Vielleicht bleibst Du klein, weil Du Dich klein denkst? Vielleicht sind Deine inneren Grenzen, die Du Dir selbst setzt, Deine schlimmsten Hindernisse? Vielleicht bist Du selbst Dein härtester Gegner auf dem Weg zu mehr Glück und Erfolg?
Je einflussreicher etwas wird, desto lauter wird daran auch die Kritik. Das betrifft auch die Positive Psychologie.
Kritik an Positiver Psychologie
Verdient etwas mit so „edlen“ Motiven wie Positive Psychologie Kritik? Ja. Zumindest gibt es Einwände und mögliche Nachteile. Es folgen die zentralen Kritikpunkte an Positiver Psychologie.
1. Zuordnung als „positiv“ ist nicht allgemeingültig
Ein Kritikpunkt an Positiver Psychologie ist die klare Zuordnung von bestimmten Aspekten als positiv. So sieht die Positive Psychologie Optimismus als etwas Erstrebenswertes. Meist ist das auch so, beispielsweise sind Optimisten beliebter als Pessimisten (Helweg-Larsen, Sadeghian und Webb, 2002). In bestimmten Situationen, in denen hohe Risiken bestehen, kann Optimismus aber auch schädlich sein und negative Wirkung entfalten. Etwa beim Glücksspiel (Gibson und Sanbonmatsu, 2004) oder bei Führungskräften, die unverantwortlich hohe Risiken eingehen aus blindem Optimismus heraus (Hmieleski und Baron, 2009).
Ist deshalb Positive Psychologie zu verwerfen oder schlechter als Klinische Psychologie? Keineswegs. Die Situation in der Klinischen Psychologie ist ganz ähnlich. So können auch Aspekte, welche die Klinische Psychologie als „negativ“ betrachtet unter bestimmten Umständen positiv sein: Ängste haben eine wichtige Funktion und können Menschen im Zweifel vor Gefahren schützen, depressive Menschen haben mitunter realistischere Erfolgserwartungen, manische Züge verleihen einen Produktivitätsschub und können in bestimmten kulturellen Umfeldern Zustimmung erfahren. Auch Personen mit narzisstischen Eigenschaften strahlen oft hohe Überzeugung aus und haben ein enormes Selbstvertrauen – was ihnen etwa bei Karrieren in Politik, Management oder Kultur helfen kann. Letztlich ist „Allgemeingültigkeit“ ein Ideal, das es nahezu in keiner Wissenschaft gibt. Selbst in der Physik gibt es immer wieder Ergebnisse, die bisherige Gewissheiten in Frage stellen. Das ist Wissenschaft. Es gehört dazu.
Insofern geht es nicht um ein Verwerfen der gesamten Positiven Psychologie, nur weil einige Aspekte nicht immer klar positiv sind. Es geht um eine reflektierte Betrachtung der Aspekte, die im Allgemeinen positiv sind und ihre angemessene Kalibrierung (Lomas und Ivtzan, 2016).
2. Folgt der Welle an Selbstoptimierungs-Gurus und Coaching-Anbietern
Jedes Jahr geben Menschen viele Milliarden Euro aus, nur um sich besser zu fühlen und „erfolgreicher“ zu werden. Tatsächlich bedienen nicht-wissenschaftliche Praktiker dieses Bedürfnis nach Selbstoptimierung schon lange. Ein Beispiel ist Dale Carnegie mit seinem 1936 erschienenen Buch „How to Win Friends and Influence People“, das zu einem der meistverkauften Bücher der Geschichte zählt. Auch vor ihm und nach ihm lieferten zahllose Personen ein reichhaltiges Angebot, mit dem Versprechen schnell glücklich, reich, motiviert oder erfolgreich zu werden.
Tatsache ist, dass es diese Angebote für Themen der Positiven Psychologie bereits vor einer wissenschaftlichen Erforschung der Grundlagen gab. Entsprechend gibt es Menschen, die Positive Psychologie kritisieren: „Was ihr erforscht, das ist doch alles längst bekannt. Ihr bestätigt wissenschaftlich nur das, was jemand anderes schon seit Jahrzehnten in der Praxis predigt!“ Braucht es daher die Positive Psychologie überhaupt noch, ist das Feld nicht längst abgegrast?
Ja, es braucht Positive Psychologie, um besser spät als nie Wissenschaft in diesen Bereich zu bringen. Positive Psychologie kann hier ganz konkret Theorien und Ansätze, die bisher Spekulation waren, empirisch überprüfen, Menschen vor falschen Versprechen (schnell reich werden usw.) der „Vulgärpsychologie“ schützen, Nebenwirkungen aufzeigen, belastbare Ansätze für die Praxis entwickeln, die tatsächlich nachhaltig die gewünschten Wirkungen entfalten. Das ist eine wichtige Erweiterung zu den unwissenschaftlichen und oft überzogenen Versprechen der Selbsthilfe-Praktiker. Behauptungen nach dem Motto „Die fünf Dinge, die du beachten musst, damit jedes Team läuft!“, „Drei Dinge, die dich zur perfekten Führungskraft machen!“, „Das eine Geheimnis, das dich zum glücklichen reichen und beliebten Menschen macht.“ oder „Ganz einfach in zwei Jahren zum Millionär.“ brauchen dringend eine seriöse wissenschaftliche Überprüfung und Einordnung.
Auch die Klinische Psychologie hat wichtige Vorreiter nicht in der Wissenschaft, sondern in Praktikern und Theoretikern wie dem Psychoanalytiker Sigmund Freud. Und auch in der Medizin gibt es praktische Strömungen, die nicht zur naturwissenschaftlichen Schulmedizin gehören. Umso wichtiger, dass es Wissenschaft und Forschung in diesen Bereichen gibt. Genau das leistet auch die Positive Psychologie: belastbare Wissenschaft in einem Feld, das bisher von Spekulation beherrscht wird.
3. Festigt ökonomisches Leistungsdenken
Eine zusätzliche Kritik an der Positiven Psychologie ist: Sie überträgt ökonomisches Leistungsdenken auf das einzelne Individuum, macht den Menschen zum „Unternehmen“, das es zu optimieren gilt. Sie führt Menschen in einen Zustand, in dem sie gezwungenermaßen sich selbst optimieren wollen und hart arbeiten an ihrem Geist und Körper, ihrem sozialen Umfeld und Leben. Kritiker reagieren insbesondere negativ auf Themen der Positiven Psychologie wie Selbständigkeit, Wohlstand, Motivation, Disziplin und den Aufbau von Kompetenzen.
Eine Diskussion, ob ökonomisches Denken in Kategorien von Effizienz und Effektivität an sich wirklich etwas Schlechtes ist und ob es daher verwerflich ist, zum Unternehmer seiner Selbst zu werden, sei den Philosophen überlassen. Tatsache ist, dass Positive Psychologie auch viele Themen aufgreift, die selbst einem eingefleischten Kritiker des Leistungsdenkens unverdächtig sein sollten. Dazu gehören Dankbarkeit, Glück und Achtsamkeit genauso wie gute Beziehungen in Partnerschaft und Familie. Letztlich ist die Berechtigung derartiger Kritik also stark davon abhängig, wie Positive Psychologie im Einzelfall angewendet wird. Und das geschieht natürlich nachfragegetrieben. Offenbar interessieren sich einfach viele Menschen für die von Kritikern bemängelten Themen Selbständigkeit, Wohlstand, Motivation und Disziplin. Steht es uns zu, das von außen zu bemängeln? Wäre es besser, diese Menschen sitzen ganz „unökonomisch“ und leistungsfern täglich fünf Stunden vor dem Fernseher?
Besonders wenig durchdacht sind Angriffe gegen die Positive Psychologie nach dem Motto: „Ihr benutzt Positive Psychologie, damit Menschen ökonomisch leistungsfähiger und besser ausbeutbar sind!“ Nach diesem Argument müsste man auch alle klinisch psychologischen und medizinischen Behandlungen von Krankheiten kritisieren: „Hey, ihr macht kranke Menschen gesund. Das geht aber gar nicht. So sind die ja dann besser ausbeutbar als Mitarbeitende!“ Ja, eine gesunde Person ist ökonomisch besser nutzbar. Sollen aber etwa nur deswegen alle ihr Potenzial nicht entwickeln dürfen, weil davon auch die Wirtschaft oder andere Menschen profitieren könnten?
4. Bietet Menschen aus schwierigen Verhältnissen nichts
Kritik an Positiver Psychologie hört sich teilweise auch so an: „Positive Psychologie hat zu tun mit Achtsamkeit, guter Ernährung, gesunden Schlafgewohnheiten und sinnvoller Regeneration. Wie soll die alleinerziehende Mutter im Mindestlohn das anwenden? Sie hat keine Zeit für Meditation und Schlaf, keinen Wald oder Park in der Nähe zum Regenerieren und kann sich gute Ernährung schlichtweg nicht leisten. Positive Psychologie hat solchen gesellschaftlich benachteiligten Menschen nichts anzubieten. Die Gesellschaft ist allein für sie und ihr Glück zuständig, muss das mit Geldtransfer von außen herstellen.“ Wirklich?
Einerseits zeigen viele Statistiken, dass schwierige sozioökonomischen Verhältnisse mit unerwünschten Eigenschaften zusammenhängen wie geringem Bildungserfolg, niedriger Lebenserwartung, instabilen Familien, Gewalterfahrungen, Substanzmissbrauch, geringerer Intelligenz und niedriger Selbstdisziplin. Doch ist das alles allein auf einen Mangel an Wohlstand zurückzuführen, der „endlich“ durch die Gesellschaft behoben werden muss – und dann ist alles gut? Es gibt mehrere Punkte, die gegen so eine undifferenzierte und oberflächliche Betrachtung sprechen.
Einer ist: Täglich beweisen uns tausende erfolgreiche Menschen aus schwierigsten Verhältnissen, dass ein schlechtes Umfeld ihr Schicksal nicht zwangsweise vorherbestimmt. Studierende, die teilweise wortwörtlich aus dem „Dreck“ kommen, oft aus anderen Ländern, wissen, was Hunger bedeutet, sind mitunter die Besten – gerade, weil sie wissen, wie wichtig es ist, gebildet zu sein und Geld zu verdienen. Auch in anderen Bereichen zeigen Menschen aus schwierigsten Verhältnissen, dass sie erfolgreich sein können mit Fokus, Selbstdisziplin und einer klaren Vision. Das gilt für Unternehmer, Künstler und Sportler. Lionel Messi, von dem schon oben berichtet wird, ist ein Beispiel von vielen dafür. All diese erfolgreichen Menschen haben eine klare Nachricht an uns: „Deine Umstände bestimmen nicht dein Leben. Du kannst etwas ändern. Du selbst bestimmst dein Leben.“
Der Einwand, dass gesellschaftlich benachteiligte Personen keine Zeit hätten, ist nicht stichhaltig. Im Schnitt verbringen Erwachsene in Deutschland mittlerweile über fünf Stunden täglich allein mit Videos, Fernsehen und Computerspielen (Vaunet, 2023). Mit abnehmendem sozialem Status steigt dieser unfassbare Wert sogar weiter. Das sieht nicht so aus, als wäre es unmöglich, täglich etwas Zeit zu investieren um zu meditieren, Sport zu machen, in der Natur zu regenerieren, gesund zu kochen, etwas Neues zu lernen oder soziale Kontakte zu pflegen.
Umgekehrt könnte man fragen, ob „der CEO, der eine 70-Stunden-Woche arbeitet, international unterwegs ist, sich um mehrere Miethäuser, seine Aktienpakete und ein großes soziales Netzwerk kümmern muss“ wirklich mehr Zeit für Meditation, Sport, Regeneration guten Schlaf und seine Familienbeziehungen hat.
Auch Geld ist kein entscheidender limitierender Faktor zur Anwendung Positiver Psychologie. Im Gegenteil, Positive Psychologie ist sogar hochgradig sozial gerecht: Viele Punkte kosten nichts außer etwas Zeit und Disziplin, setzen rein an der inneren Haltung an. Anders als Hochleistungsmedizin oder kostenpflichtige Interventionen wie Nachhilfe ist Positive Psychologie jeder Person zugänglich, die lesen oder auch nur Hörbücher anhören oder Videos ansehen kann. Einzige Voraussetzung dafür scheint die Entscheidung dafür, etwas an seinem Leben zu ändern, sich zu entwickeln.
Und gerade hier kann und sollte eine Gesellschaft ansetzen: Sie kann sozial schwache Menschen auf das Potenzial der Positiven Psychologie für ihr Leben hinweisen und sie mit den Konzepten vertraut machen – und zwar möglichst frühzeitig. Sie kann Menschen dabei begleiten, gute Gewohnheiten aufzubauen und schlechte abzulegen, handlungsfähiger, effektiver, motivierter, disziplinierter, glücklicher und erfolgreicher zu werden.
Fazit: Die stärksten Mitglieder der Gesellschaft haben Themen wie Fokus und Disziplin, gute Gewohnheiten, Glück und Motivation oft schon verinnerlicht – deshalb sind sie stark. Positive Psychologie bietet gerade den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft etwas. Denn diese haben das meiste Aufholpotenzial. Ihnen öffnet die Positive Psychologie kostenfreie und leicht zugängliche Möglichkeiten, um ihre Situation nachhaltig zu verbessern. Sie weist Wege aus der Abhängigkeit von anderen durch innere Stärke.
Und sie wirkt präventiv, macht Menschen resilient. Wir alle sollten die Angebote der Positiven Psychologie möglichst früh kennen lernen und praktizieren, damit wir erst einmal gar nicht in prekäre Lagen geraten. Mit Selbstwirksamkeit, Selbstdisziplin, Fokus und Konzentration, Motivation und guten Gewohnheiten werden wir seltener zur klischeehaften „alleinerziehenden Mutter im Mindestlohn“. Eine Gesellschaft ist verantwortlich für alle Mitglieder, sollte nicht blind sein. Gerade deshalb sollten wir den schwächeren Mitgliedern wirksame Wege zeigen, um handlungsfähig zu werden – und sie dabei begleiten, dass sie starke Mitglieder werden, nicht mehr abhängig von anderen sind. Dabei sind die wissenschaftlichen Ansatzpunkte der Positiven Psychologie barrierefrei, kostengünstig und effektiv.
5. Fördert toxische Positivität
Ein sehr ernst zu nehmender Punkt der Kritik an Positiver Psychologie ist, dass sie toxische Positivität fördern kann. Was ist toxische Positivität? Konkrete Beispiele sind:
Eine Patientin verliert den Kampf gegen Krebs und fühlt sich schuldig: „Andere haben härter gekämpft. Ich hatte einfach nicht das richtige Mindset, war nicht resilient genug.“ Eine Führungskraft geht unverhältnismäßig hohe Risiken ein, weil die Person von der Bedeutung des Optimismus überzeugt ist. Ein wenig begabtes Kind mit schlechten Schulleistungen bekommt massive Schuldgefühle und überhöhten Druck, da ihm suggeriert wird: „Du musst dich eben mehr anstrengen. Alles eine Frage von Fokus und Disziplin!“ Eltern stehen vor der Tatsache, dass ihr Kind eine Straftat begangen hat, und sagen sich: „Wir haben unseren Sohn selbst zum Kriminellen gemacht, weil wir nicht genug unsere negativen Annahmen gegenüber ihm reflektiert haben. Er ist das Ergebnis einer Selbsterfüllenden Prophezeiung.“
Ein zwanghafter Fokus auf Positives, ein Ausblenden von negativen Aspekten des Lebens und ein unreflektiertes, engstirniges Verweisen auf die alleinige Bedeutung von Mindset, guten Gewohnheiten und Disziplin kann natürlich schaden. Falsch, undifferenziert und unwissenschaftlich angewendet, können daher alle Konzepte der Positiven Psychologie auch Unheil anrichten.
Typisch toxisch positive Aussagen können sein:
- „Wenn du willst, dann kannst du es auch schaffen!“ – Suggestion: Wenn du es nicht geschafft hast, hast du eben nicht hart genug gewollt.
- „Sieh es doch einfach von der positiven Seite!“ – Suggestion: Du bist selbst schuld an deiner Trauer, deinen Ängsten etc., weil du sie zulässt.
- „Naja. Es gibt Schlimmeres.“ – Suggestion: Was stellst du dich so an? Finde dich damit ab und gib Ruhe.
Deswegen ist sehr wichtig, dass wir alle Themen der Positiven Psychologie wissenschaftlich fundiert und differenziert betrachten. Die Gefahr der toxischen Positivität vermeiden wir, indem wir Konzepte der Positiven Psychologie seriös und kritisch gegenüber ihren Grenzen und Risiken einsetzen. Solide empirische Forschung und Wissenschaft können in diesem Handlungsfeld reines Selbstoptimierungs-Geschwafel ersetzen. Genau das geschieht in den einzelnen Kapiteln dieses Textes. Denn bei einem unreflektierten „hurra-Rufen“ laufen wir Gefahr, mit gut Gemeintem Schlechtes zu erreichen.
Fazit: Es gibt Kritik an der Positiven Psychologie, die in Teilaspekten berechtigt ist. Tatsache ist, dass die Disziplin sich weiterentwickelt, einige Kritikpunkte aufgegriffen hat und berücksichtigt. Keiner der Kritikpunkte ist geeignet, die Positive Psychologie an sich in Frage zu stellen. Im Vergleich mit anderen Wissenschaften und Disziplinen der Psychologie finden sich keine besonderen Gründe, die eine komplette Ablehnung rechtfertigen.
Möglicherweise sind die tieferen Ursachen für derartige Kritik selbst psychologisch interessant. Stellt die Positive Psychologie doch tief verwurzelte Glaubenssätze in Frage, die fest zum Weltbild zahlreicher Menschen gehören.
Positive Psychologie erforscht, wie jede Person ihr Potenzial verwirklichen kann. Botschaften wie „Du bist nicht Opfer Deiner Umstände. Du kannst glücklicher, beliebter, gesünder, wohlhabender und in jeder Hinsicht erfolgreicher sein. Das sind die Methoden dafür, du kannst sie sofort anwenden. Es liegt an dir, übernimm Verantwortung!“ rufen bei einigen Menschen tiefe emotionale Ablehnung hervor. Sie passen nicht zu dem, was viele Ohren täglich hören. Sie passen nicht zu einem gerne gepflegten Menschenbild, in dem manche Personen rein passive „Opfer“ oder andere Personen eben passive „Gewinner“ ihrer Umstände in Herkunft, Familie und Gesellschaft sind – und der Staat diesen Gruppen durch Umverteilung „Gerechtigkeit“ zukommen lassen soll. Kurz gesagt: Die Forschungsergebnisse der Positiven Psychologie stellen die verbreitete Opfer-Ideologie in Frage.
Auch Forschungsergebnisse, die zum Beispiel zeigen, dass Glück zu großen Teilen angeboren ist, Glück eher zu Erfolg führt als umgekehrt Erfolg glücklich macht und dass äußere Umstände nur extrem wenig Einfluss auf unser langfristiges Glücksgefühl haben, sind vielen Menschen zutiefst suspekt. Widersprechen sie doch fest eingepflegten Glaubenssystemen und Denkgewohnheiten. Schließlich glauben breite Schichten der Gesellschaft an Glück durch Geld und Konsum. Die einen, indem sie selbst daran arbeiten – die anderen, indem sie Umverteilung fordern und den „Sozialgedanken“ predigen. Beide haben viel mehr gemeinsam als sie glauben: Sie hängen dem gleichen materialistischen Weltbild an, huldigen dem Geld, fokussieren sich darauf als trügerische „Erlösung“. Unser Wirtschaftsmodell basiert letztlich darauf, dass Menschen versuchen sich „glücklich zu konsumieren“ – ein Lebensstil, der nach Erkenntnissen der Psychologie nicht funktioniert, nicht glücklich machen wird.
Albert Einstein hat treffend gesagt: „Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.“ Auf derartige Infragestellungen ihres Weltbildes, reagieren daher einige Personen mit emotionaler Ablehnung und wütender Kritik. Andere fangen an nachzudenken und erweitern ihren Horizont.
Alles in Allem ist Positive Psychologie daher eine große Bereicherung für die Gesellschaft und jeden einzelnen Menschen, der sich den Forschungsergebnissen öffnet und einen neugierig prüfenden, rationalen Blick darauf wagt: Welches von den vielen Angeboten der Positiven Psychologie will ich nutzen?
Ein wesentliches Forschungsfeld der Positiven Psychologie ist positives Denken. Im nächsten Kapitel geht es deshalb um eine bestimmte Sichtweise auf die Welt: Optimismus. Von dieser Sichtweise hängt ab, ob wir aktiv unser Leben gestalten, die Welt als etwas Gutes sehen – oder ob wir uns vor der Welt verstecken, Angst haben und passiv bleiben.