Reifegradmodell: Das Hersey-Blanchard-Modell der Führung
Wie selbständig können Mitarbeiter arbeiten? Darum geht es im Reifegradmodell von Hersey und Blanchard. Es ist ein besonders bekanntes situatives Führungsmodell, das die Bedeutung der Eigenschaften von Geführten für den Führungsstil betont. Dieses Kapitel stellt das Reifegradmodell vor, beschreibt den Reifegrad der Mitarbeiter und zeigt am Beispiel, wie Führung sich anpassen sollte.
In diesem Beitrag:
Das Reifegradmodell von Hersey und Blanchard
Hersey und Blanchard entwickelten in den 70er-Jahren ein Modell der Führung, das sich am Reifegrad der Mitarbeiter orientiert (Hersey und Blanchard, 1969). Daher hat sich die Bezeichnung Reifegradmodell durchgesetzt. Je nach Entwicklungsstand der einzelnen Mitarbeiter soll die Führungskraft den passenden Führungsstil auswählen. Entsprechend liegt der Fokus auf dem Führungsverhalten in Abhängigkeit von der Entwicklung eines Mitarbeiters, wie folgende Abbildung zeigt.
Das Reifegradmodell geht von einer Entwicklung der Mitarbeiter aus. Entsprechend war die ursprüngliche Bezeichnung „Life Cycle Theory of Leadership“ (Hersey und Blanchard, 1969). Die insgesamt vier Entwicklungsstufen bezeichnet das Modell als Reifegrad der Mitarbeiter.
Bei der Anpassung des Führungsverhaltens auf die Mitarbeiter greifen Hersey und Blanchard auf die klassischen beiden Dimensionen des Führungsverhaltens zurück:
Aufgabenorientierung (Initiating Structure)
Mitarbeiterorientierung (Consideration)
Um den Fokus mehr auf die Anpassung des Führungsverhaltens in Abhängigkeit von den Mitarbeitern zu richten, benannten die Autoren ihr Modell später um in „Situational Leadership Theory“ (Hersey und Blanchard, 1977).
Reifegrad der Mitarbeiter
Um den Reifegrad von Mitarbeitern zu definieren, konzentriert sich das Reifegradmodell der Führung auf zwei Aspekte:
die Motivation der Mitarbeiter und
die Fähigkeit der Mitarbeiter.
Beide Aspekte – Motivation und Fähigkeit – sieht das Modell jeweils in Bezug auf die Arbeitsaufgabe. Der Reifegrad von Mitarbeitern bezieht sich dabei rein auf eine aufgabenbezogene Reife im Sinne von Leistungsfähigkeit. Die bei Psychologen beliebte Annahme im Hintergrund ist, dass Arbeitsleistung letztlich das Ergebnis aus Fähigkeit mal Motivation ist (vgl. auch Vroom, 1964 oder Porter und Lawler, 1968).
Das Modell unterscheidet entsprechend vier aufgabenbezogene Reifegrade von Mitarbeitern. Hier die vier Reifegrade aus dem Modell von 1982 (Hersey und Blanchard, 1982).
Reifegrad 1: nicht willig und nicht fähig
Reifegrad 2: willig aber nicht fähig
Reifegrad 3: nicht willig aber fähig
Reifegrad 4: willig und fähig
Die Eigenschaften der vier Reifegrade wurden von Hersey und Blanchard angepasst, die Tabelle zeigt die Übersicht.
Reifegrad der Mitarbeiter – Modelle von 1969 und 1977
Reifegrad der Mitarbeiter – Modell von 1982
Reifegrad 1: unfähig und unsicher aber enthusiastisch
Reifegrad 1: nicht willig und nicht fähig
Reifegrad 2: unfähig aber zunehmend selbstsicher
Reifegrad 2: willig aber nicht fähig
Reifegrad 3: fähig aber nicht selbstbewusst oder unmotiviert
Reifegrad 3: nicht willig aber fähig
Reifegrad 4: sehr selbstbewusst, kompetent und motiviert
Reifegrad 4: willig und fähig
Entsprechend dieser Reife-Stufen soll Führungsverhalten sich anpassen, um erfolgreich zu sein.
Führung nach dem Reifegradmodell
Das situative Führungsmodell von Hersey und Blanchard leitet aus den genannten Reifegraden direkt Leitlinien für die Mitarbeiterführung ab. Die Führungskraft kann und sollte entsprechend des Entwicklungsstandes dem Mitarbeiter zunehmend Freiraum geben und aufgabenorientiertes Führungsverhalten reduzieren. Insgesamt grenzen Hersey und Blanchard vier Führungsansätze ab:
Dirigieren (telling): Die Führungsbeziehung startet mit einer autoritären Phase. Die Führungskraft dirigiert hier den Mitarbeiter und lässt ihn wenig selbst entscheiden. Diesen Führungsstil sollen Führungspersonen auf Mitarbeiter des Reifegrad 1 anwenden.
Anleiten (selling): Nach und nach erklärt die Führungskraft dem Mitarbeiter zusehends den Sinn von Aufgaben und versucht ihm die Tätigkeit zu verkaufen. Der Führungsstil richtet sich auf Mitarbeiter mit Reifegrad 2.
Partizipieren (participating): In der dritten Phase (Mitarbeiter mit Reifegrad 3) darf ein Mitarbeiter an den Entscheidungen bereits partizipieren und bekommt immer mehr Freiheiten. Die Mitarbeiter sind als kompetente Ansprechpartner geschätzt.
Delegieren (delegating): Ist der Mitarbeiter letztendlich ausgereift (Reifegrad 4), dann können Aufgaben und Entscheidungen vollständig übertragen werden. Auf dieser Stufe erledigen Mitarbeiter ihre Arbeit selbständig und zuverlässig.
Neben der aufgabenorientierten Führung behandelt das Modell auch das mitarbeiterorientierte Führungsverhalten. Es geht davon aus, dass zu Anfang der Entwicklung klar auf Aufgabenorientierung geachtet werden muss (Phase 1), der Mitarbeiter soll eingearbeitet werden. Erst mit der Zeit rückt die Mitarbeiterorientierung in den Fokus, um zu motivieren und eine gute Beziehung herzustellen (Phasen 2 und 3). Ist eine gute Beziehung aufgebaut, dann kann auch die mitarbeiterorientierte Führung reduziert werden (Phase 4).
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Das Reifegradmodell weist mit der letzten Phase deutlich darauf hin, dass gute Mitarbeiterführung sich letztendlich selbst überflüssig macht. Ein späteres Kapitel diskutiert daher, was nachhaltige Führung unternehmen kann, um sich selbst zu ersetzen und Kapazitäten für andere Aufgaben freizumachen.
Reifegradmodell am Beispiel
Der Schaukasten zeigt einige konkrete Beispiele für die Anwendung des Reifegradmodells von Hersey und Blanchard.
Beispiel: Reifegradmodell
Beispiel: Der Mitarbeiter ist Reifegrad 1 (nicht willig und nicht fähig), der Führungsstil ist „telling“.
Richard arbeitet als Hilfsarbeiter bei einem Gartenbauunternehmen. Eigentlich würde er gerne etwas anderes arbeiten, hat aber nur diese Arbeit gefunden, da er die Landessprache kaum spricht und keinerlei Qualifikation hat. Bekannte haben ihn auf diese Stelle vermittelt. Das Arbeitsverhalten von Richard ist durch Passivität geprägt. Der Vorarbeiter macht mit ihm Zeiten für das morgendliche Erscheinen aus, die Richard regelmäßig versäumt – die S-Bahn sei schuld, das ist seine Standard-Rechtfertigung. Wenn der Vorarbeiter ins Lager fährt, um etwas zu holen, dann stellt Richard sofort seine Tätigkeit ein und öffnet das Smartphone. Er reagiert nur auf direkte Anweisungen – und auch das mitunter nicht oder nur halbherzig. Arbeiten und Anweisungen braucht Richard bis ins Detail erklärt. Er soll einen Granitstein ausmessen und zuschneiden. Der Vorarbeiter sagt „Miss die Lücke aus und ziehe zwei Zentimeter ab für den Beton!“ Richard ist überfordert. Er misst die Lücke aus, kommt auf 57 Zentimeter. Aber was ist 57 minus zwei? Der Vorabeiter zeigt auf einen Stein und sagt „Schneide diesen Stein auf 55 Zentimeter zu!“ Richard nimmt die Flex und fängt an zu arbeiten. Aber was ist das? Anstatt den Stein gerade durch zu schneiden wird der Schnitt spiralförmig ud windet sich den Stein entlang, den Richard immer wieder umdreht. Der Stein kann auf den Schuttplatz, ist nicht mehr verwendbar. Fassungslos steht der Vorarbeiter da.
Was empfiehlt das Reifegradmodell für die Führung bei Reifegrad 1? Der Vorarbeiter hat scheinbar nur zwei Möglichkeiten: Hundert Prozent Aufmerksamkeit für Richard und jede seiner Bewegungen ist eine davon. So könnte er aber selbst nichts mehr arbeiten. Oder der Vorarbeiter akzeptiert, dass Richard weitgehend unproduktiv ist und neben seinem Stundenlohn auch noch den ein oder anderen Schaden anrichtet und Kunden verärgert. Beide Möglichkeiten sind nicht wirklich akzeptabel. Wenn die Firma Richard wirklich behalten möchte, dann bleibt nur eine Alternative: Richard muss sich entwickeln. Das Reifegradmodell setzt auf „telling“ in der (berechtigten?) Hoffnung, dass durch stetige Belehrungen und Korrektur irgendwann eine Verbesserung eintritt.
Beispiel: Der Mitarbeiter ist Reifegrad 2 (willig aber nicht fähig), der Führungsstil ist „selling“.
Ali arbeitet als Azubi bei einem Kaminbauer. Er fühlt sich wohl im Team, ist ein Macher und möchte gerne möglichst viel möglichst schnell erledigen. Ali ist immer pünktlich und nie krank. Heute soll ein neuer Kamin für einen Holzofen an die Außenwand eines Holzhauses installiert werden. Die Wanddurchführung wird mit einem teuren feuerfesten Spezialmaterial ummantelt, um die Hitze zu dämmen. Ai schnappt sich die Rolle mit dem Spezialmaterial und schneidet davon ein Stück ab, das ihm geeignet erscheint. Doch beim Einsetzen stellt sich heraus: Er hat vor lauter schnell, schnell nicht richtig gemessen, das Teil ist zu kurz, es muss ein neues gefertigt werden. Diesmal schneidet der Chef. In der Zwischenzeit schnappt sich Ali eine feuerfeste Platte mit Öffnung, die an der Innenwand des Hauses den Abschluss für die Kamindurchführung bildet. Ein Kollege hat bereits das Loch dafür in die Trockenbauwand geschnitten. Ali passt die Platte ein und fängt an Mineralwolle hinter die Platte zu stopfen. Bis der Chef ihn stoppt: „Halt Ali, was machst Du da? Das darf da nicht hin!“
Was empfiehlt das Reifegradmodell für die Führung bei so einem Reifegrad? Der Chef nimmt Ali beiseite, erklärt ihm wie die Arbeit fachgerecht weiter fortgeführt wird und welche Vorteile es bietet. Er macht es ihm vor und beantwortet Fragen. Ali ist etwas wie ein neugieriges, verspieltes Kind, das mit wenig Risikobewusstsein loslegt und dabei viel Unheil anrichten kann. Die Führungskraft versucht ihren Führungsstil darauf auszurichten und Ali Anleitung zu geben, die Vorteile der fachgerechten Umsetzung schmackhaft zu machen. Sie möchte den Reifegrad anheben, damit Ali nicht nur motiviert, sondern zunehmend auch kompetent wird. Er soll seine Arbeit nicht nur schnell, sondern auch richtig erledigen. Dafür sollte Führungskraft nach Meinung von Hersey und Blanchard dem Mitarbeiter die richtige Arbeitsweise und Struktur „verkaufen“.
Beispiel: Der Mitarbeiter ist Reifegrad 3 (nicht willig aber fähig), der Führungsstil ist „participating“.
Egon leitet ein Rechenzentrum an einer Universität. Er hat Informatik studiert und ist hier fachlich up-to date. Neue technische Lösungen zu suchen und voranzutreiben ist aber nicht sein Ding. Im Gegenteil. Selbst wenn von außen Anfragen kommen, hat er ein paar feste Textbausteine, mit denen er diese Themen abbügelt: „Dafür bin ich nicht zuständig.“ oder „In zwei Jahren kommt ohnehin eine neue Software. Es lohnt sich nicht mit der alten vorher eine Lösung zu suchen.“ und „Wir arbeiten hier ohnehin alle am Limit. Ich kann meinem Team das Thema nicht auch noch geben.“ Es ist klar, das Egon wo anders mehr verdienen und bewegen könnte mit seiner Qualifikation. Aber darum geht es ihm nicht. Er möchte ja eben gerade wenig bewegen. Deshalb ist er hier, auf seiner Position und hat sich eingerichtet.
Welchen Führungsstil empfiehlt das Hersey-Blanchard-Modell für Reifegrad 3? Mit „participating“ soll Egon, der ja fachlich fähig ist, stärker eingebunden werden. Die (berechtigte?) Annahme ist, dass über das Einbinden Interesse und Motivation entstehen und Egon zunehmend motiviert ist, seine Kompetenzen auch tatsächlich im Interesse der Universität einzubringen.
Beispiel: Die Mitarbeiterin ist Reifegrad 4 (willig und fähig), der Führungsstil ist „delegating“.
Christine ist Mitarbeiterin in einer Weiterbildungsakademie. Mit Abschlüssen in BWL und Pädagogik und einer systemischen Ausbildung ist sie für ihre Stelle überqualifiziert. Da sie alleinerziehend und daher länger in Kinderpause war, hat ihr Arbeitgeber sie dennoch vom Arbeitsmarkt gewinnen können. Die Zusammenarbeit ist für ihren Chef ein Genuss. Christine weist auf Herausforderungen und nötige Entscheidungen hin, bevor diese der Führungskraft selbst bewusst sind. Sie erledigt Aufgaben nicht nur so wie besprochen, sondern denkt auch an die nächsten Schritte und bereitet alles so vor, dass ihre Führungskraft höchstens noch ein paar finale Schritte erledigen sollte. Typischerweise sieht das dann so aus: „Wir brauchen noch deine Unterschrift auf den Verträgen für den Kunden. Ich habe dir schon alles auf den Schreibtisch zur Unterschrift gelegt. Leg es dann bitte einfach wieder auf meinen Tisch, dann versende ich das.“ Je mehr Freiraum sie bekommt, desto besser ist ihre Leistung. Aufträge sind daher sehr frei formuliert, nach dem Motto: „Der Ansatz, den unsere Kollegen verfolgen wollen, gefällt mir nicht aus folgenden Gründen: … Wie die ideale Lösung aussieht weiß ich aber auch nicht. Kannst du bitte mit ihnen sprechen und eine Lösung aushämmern, die für beide Seiten passt?“ Christina wird mit einer Lösung kommen, die alle Seiten akzeptieren und die schneller sowie besser ist als ihr Chef diese selbst hätte entwickeln können. Sie ist näher dran an den Prozessen und Menschen.
Welchen Führungsstil empfehlen Hersey und Blanchard in ihrem Modell für Reifegrad 4? Sie empfehlen „delegating“. Aufgaben und Entscheidungen sind einfach an die Mitarbeiter auf diesem Level zu delegieren, die Führungskraft bespricht nur noch den groben Rahmen und lässt die Mitarbeiter dann machen.
Die Beispiele zum Reifegradmodell zeigen bereits klar: Die Annahmen und Empfehlungen des Modells von Hersey und Blanchard sind bei genauer Betrachtung und Anwendung oft nicht sinnvoll und realistisch. Der nächste Abschnitt vertieft diese Kritik.
Kritik am Reifegradmodell
Welche Kritik gibt es am Reifegradmodell? Fangen wir mit etwas positivem an: Hersey und Blanchard haben den Blick stark auf die Flexibilität von Führung gerichtet. Das hat dazu beigetragen, dass der verbreitete Glaube „Es gibt einen idealen Führungsstil!“ abgenommen hat. Dennoch gibt es Nachteile des Reifegradmodells. Die kritischen Stimmen betreffen letztlich nahezu die gesamte Theorie von Hersey und Blanchard. Im Schaukasten eine Zusammenfassung der wichtigsten Einwände gegen das Reifegradmodell.
Kritik am Reifegradmodell
Das Modell geht von einer Entwicklung der Mitarbeiter analog zu den Stufen aus, einer Art Lebenszyklus. Entsprechend nannten es Hersey und Blanchard ursprünglich auch Life Cycle Theory of Leadership. Diese Annahmen einer Sequenz der Entwicklung nach dem Modell haben sich nicht bestätigen lassen. Warum beispielsweise sollte jemand, der motiviert aber nicht fähig ist (Reifegrad 2) dann auf einmal nicht mehr motiviert sein, wenn er auf Reifegrad 3 kommt?
Mitarbeiter auf Stufe 1 sollen nach dem Reifegradmodell autoritär, aufgabenorientiert und ohne Fokus auf gute Beziehungen geführt werden. Entsprechend verwenden Hersey und Blanchard den Begriff „telling“. Hier gibt es Kritik, die fordert, dass gerade am Anfang eine gute menschliche Beziehung hergestellt werden sollte. Erst dann fällt die fachliche aufgabenorientierte Führung auf einen fruchtbaren Boden. Ein Start im Kommando-Stil wird in unserem Kulturraum von vielen neuen Mitarbeitern wenig positiv wahrgenommen. Und ob jemand, der nicht motiviert ist, sich durch stumpfes „telling“ und Antreiben wirklich weiterentwickelt, bleibt zweifelhaft.
Reifegrad 2 schildert eine motivierte aber nicht kompetente Person. Warum hier „selling“ also das Verkaufen der Aufgaben an wohlgemerkt motivierte Personen notwendig ist, scheint schleierhaft. Warum soll man noch versuchen jemandem etwas zu verkaufen, der es eh schon will? Eher sinnvoll ist vermutlich zu erklären, wie die Aufgabe geht. Entsprechen ist die auf Deutsch meist verwendete Bezeichnung „Anleiten“ sinnvoller gewählt als die englische Originalbezeichnung.
Ebenso stellen sich kritische Fragen auf Reifegrad 3. Warum soll ich jemanden, der zwar fachlich kompetent aber nicht motiviert ist, stark einbinden als Führungskraft in Entscheidungen? Einbinden bedeutet letztlich, dass diese Person mitgestaltet. Wird die Person notwendige Veränderungen unterstützen? Wird sie Herausforderungen nachhaltig lösen wollen? Möchte sich diese Person jetzt anstrengen, ehrgeizige Ziele setzen, um in ein paar Jahren davon zu profitieren? ja wird sich die Person überhaupt gründlich vorbereiten und mit der Entscheidung befassen? Vermutlich nicht. Daher ist ein Einbinden in Entscheidungen bei Personen, die Leistungsziele nicht mittragen wollen, gut zu überlegen. Es wird sehr von der Art der Entscheidung abhängen, ob man diese Person wirklich einbinden sollte.
Reifegrad 4 wirft auch Fragen auf. Es kann sein, dass jemand sehr motiviert und auch fähig ist und Delegation trotzdem keine gute Idee ist. Beispielsweise wenn die Person ganz andere Ziele und Werte verfolgt als die Führungskraft selbst.
Das Reifegradmodell geht von einer sequentiellen Entwicklung zu mehr aufgabenbezogener Reife aus. Aber warum soll jemand auf Reifegrad 2, der motiviert aber wenig kompetent ist, auf Reifegrad 3 (kompetent aber nicht motiviert) entwickelt werden? Ist jemand der kompetent aber unmotiviert ist tatsächlich reifer als jemand, der motiviert aber nicht kompetent ist? Warum soll ein Mitarbeiter erst demotiviert werden, bevor er auf Reifegrad 4 kann?
Hersey und Blanchards Modell reduziert die Faktoren zur Auswahl des Führungsstils zu stark. Die Führungssituation ist durch mehr bestimmt. Neben der Motivation und Fähigkeit von Mitarbeitern gibt es viele andere Aspekte, die beim Führungsstil zu berücksichtigen sind. Dazu zählen: Die Qualität der Beziehung zu den Geführten, die kulturelle Herkunft der Mitarbeiter (welches Führungsverhalten akzeptieren diese), die Kompetenz der Führungskraft selbst und die Anzahl der Mitarbeiter.
Zudem ist es schwer Mitarbeiter objektiv einem der Reifegrade zuzuordnen. Es bleibt daher bei einer subjektiven Einschätzung des Reifegrades durch Führungskräfte. Diese vergibt mehr oder weniger willkürlich ein Etikett: „Sigrid ist Reifegrad 2!“ Was ist das Problem daran und zu kritisieren? Subjektive Annahmen einer Führungskraft über Mitarbeiter neigen dazu, zur Realität zu werden. Es handelt sich um Effekte der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Damit würden Führungskräfte Mitarbeiter unbewusst auf den Reifegrad festigen, anstelle zu entwickeln.
Motivation und Fähigkeit sind nicht so getrennt, wie das Hersey Blanchard Modell behauptet. Wer motiviert ist, baut meistens auch Fähigkeit auf. Umgekehrt ist derjenige, der fähig ist, meistens auch motiviert, ein Verhalten zu zeigen.
Kritiker des Reifegradmodells sehen es als Fehler an, Motivation und Fähigkeit als statisches Etikett an Mitarbeitern fest zu machen. Nach dem Motto: „Diese Mitarbeiterin ist Reifegrad 2!“ Der Reifegrad ein und der selben Mitarbeiterin kann je nach Aufgabe sehr unterschiedlich sein. Die Motivation eines Mitarbeiters ist bei verschiedenen Tätigkeiten oft sehr unterschiedlich und die Fähigkeiten können bei einer anderen Aufgabe auf einmal ganz anders ausgeprägt sein. Die Frage „Wie reif ist ein Mitarbeiter?“ lenkt nach dieser Kritik ab von wichtigeren Fragen: „Welche Aufgabe motiviert diesen Mitarbeiter?“ und „Bei welchen Aufgaben ist diese Person stark?“
Fazit: Trotz aller Beliebtheit in der Praxis – alles in allem ist das Reifegradmodell wenig geeignet, um wirksame Führung herzustellen. Zu grundlegend sind die Kritikpunkte, zu wenig hat sich Hersey als Wissenschaftler um die Überprüfung des Modells gekümmert, zu sehr hat sich Blanchard als Unternehmensberater auf Marketing und Bewerbung des Modells fokussiert.
Trotz aller berechtigter Kritik – ein zentraler Aspekt auf den das Reifegradmodell hinweist bleibt: Mitarbeiter können sich entwickeln und Führungskräfte sollten dazu ihren Beitrag leisten. Deshalb behandelt das nächste Kapitel Mitarbeiterentwicklung als Führungsaufgabe.