Was ist kognitive Kriegsführung? Die meisten sehen von Kriegen nur ihre physische Komponente, die Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld. Zunehmend gibt es auch ein Bewusstsein dafür, dass neben Luft, Wasser und Land auch der Weltraum, der elektromagnetische Bereich und der Cyberbereich zum Schlachtfeld geworden sind, auf dem sich Kriege entscheiden. Grenzbereiche, die zumindest stark in Kriege hineinwirken sind Diplomatie und Wirtschaft. Bei den politisch Verantwortlichen schärft sich zunehmend wieder das Bewusstsein, dass es eine weitere Komponente im Krieg gibt, die oft entscheidende: Psychologie. Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick zu dem, was man früher psychologische Kriegsführung nannte und was man heute kognitive Kriegsführung nennt.
Autor: Diplompsychologe Professor Dr. Florian Becker
In diesem Beitrag:
Tradition kognitiver Kriegsführung
Psychologie im Krieg ist nichts neues. Sie ist so alt, wie der Krieg selbst. Es gibt somit eine lange Tradition der kognitiven Kriegsführung, die nicht erst ein Reichspropagandaministerium gründet, sondern die sich viel früher zeigt – etwa in den Schriften des chinesischen Kriegsphilosophen und Praktikers (General) Sunzi oder auch in den Abhandlungen des deutschen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz. Beide betonen sehr stark psychologische Aspekte als Erfolgsfaktor der Kriegsführung.
Markante Beispiele für Psychologie im Krieg und ihre Bedeutung sind zahlreich:
- Der Sieg der Taliban gegen die haushoch und vom Westen aufgepäppelten afghanischen Regierungstruppen. Wir reden überspitzt formuliert von einer Armee mit Panzern, Kampfflugzeugen und Kampfhubschraubern, die einfach keine Motivation hatte zu kämpfen – gegen eine Truppe von jungen Männern auf Mopeds mit veralteten Waffen.
- Ein vom Westen verlorener Vietnamkrieg: Hochmotivierte Nordvietnamesen mit extremem Durchhaltewillen gegen eine zunehmend kriegsmüde westliche Gesellschaft, deren Zeitgeist Frieden möchte.
- Ein historisches Beispiel für die Zerstörung einer Konfliktpartei von innen heraus ist die russische Revolution, die das Zarentum abschaffte und zum Austritts Russlands aus dem ersten Weltkrieg führte. Angestoßen wurde das unter anderem durch die von der Kriegspartei Deutschland unterstützte Rückkehr Lenins aus dem Exil, dessen Programm unter anderem die sofortige Beendigung des Krieges von russischer Seite vorsah.
Doch was genau ist psychologische Kriegsführung?
Kognitive Kriegsführung: Definition
Bekannte Sprüche lauten: „Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit“ oder „Es wird niemals so viel gelogen wie vor den Wahlen, während des Kriegs und nach der Jagd“. Psychologische Kriegsführung ist aber weit mehr als die Kontrolle über Information. Manche sprechen von der öffentlichen Meinung als Waffe. Aber psychologische Kriegsführung ist auch mehr als das. Es geht darum, das Verhalten von Menschen zu kontrollieren, ihre psychologischen Reaktionen in Aufmerksamkeit, Emotion, Denken und Verhalten (vgl. z.B. Serrano-Puche, 2021). Hier die Definition für kognitive Kriegsführung im engen Sinne:
Fassen wir die zentralen Punkte dieser Definition kognitiver Kriegsführung nochmals zusammen:
- Die Beeinflussung kommt von außen. Es handelt sich also nicht um einen normalen Interessenkonflikt und Meinungsfindungsprozess innerhalb einer Organisation.
- Der Einfluss ist psychologisch, er richtet sich also auf Aspekte wie Aufmerksamkeit, Emotionen, „scheinbares“ Wissen, Entscheidungen und Verhalten. Zielpersonen sind dabei direkt die politischen Entscheider oder indirekt Personen, die „Druck“ auf diese Entscheider ausüben (z.B. Wähler, Wirtschaft Medien, Militär).
- Der Einfluss verfolgt negative Ziele aus Sicht der beeinflussten Partei. Dazu gehören Schwächung der Handlungsfähigkeit und Motivation, Verunsicherung, Vertrauensverlust, Spaltung des Zusammenhaltes und Konflikt sowie Instabilität. Im Extremfall ist das Ziel die Zerstörung einer Konfliktpartei von innen heraus.
Ein Beispiel für das Potenzial von Informationskrieg zeigt der Schaukasten.
Am 23.04.2013 sandte ein Associated Press News-Feed eine Meldung: Explosion im Weißen Haus, Präsident Obama verletzt. In kürzester Zeit sackten US-Börsen um über 136 Milliarden Dollar ab. Der News-Feed war gehackt worden.
Was wäre los, wenn ein staatlicher Akteur mehrere News-Feeds und Nachrichtenseiten gleichzeitig hackt, SMS mit deckungsgleichen Meldungen versendet und in den sozialen Medien die falsche Information konzertiert verbreitet? Was wenn der Inhalt das Ziel hat Massenpanik zu schüren, wie etwa: „Schwerer Reaktorunfall, Wolke wandert auf Stadt XY zu.“ Schwer auszumalen.
Regierungen versuchen sich davor zu schützen, indem sie beispielsweise den Handel an den Börsen schnell aussetzen können und soziale Medien eng im Blick bzw. unter Kontrolle haben.
Abgrenzen lässt sich der Begriff zu anderen Elementen der Kriegsführung durch seine Zielsetzung, auf die Psyche und das Verhalten von Menschen. Begriffe wie Informationskrieg oder Cyberkrieg und hybrider Krieg sind daher verknüpft zu kognitivem Krieg. Informationskrieg ist eine von vielen Möglichkeiten der psychologischen Einflussnahme. Cyberkrieg zielt mitunter auf psychologische Aspekte, oft geht es aber um Angriffe auf Infrastruktur oder das Gewinnen von Informationen. Und zuletzt ist kognitive Kriegsführung ein Element aus vielen, die in moderner hybrider Kriegsführung eine Rolle spielen.
Kognitive Kriegsführung breit definiert
Kognitive Kriegsführung lässt sich auch breiter definieren. Nach dieser breiteren Definition beinhaltet sie nicht nur externe Maßnahmen, um eine andere Partei zu schwächen, sondern auch Maßnahmen, welche die eigene Kriegspartei psychologisch auf einen Krieg vorbereiten, resilient machen und stärken (Hung und Hung, 2022). Hier eine Definition kognitiver Kriegsführung im weiten Sinne:
Nach dieser breiten Definition sind der kognitiven Kriegsführung auch zuzuordnen:
- Einflüsse kommen auch von innen und sind dann gerichtet auf Stabilisierung und Stärkung psychologischer Aspekte wie etwa Zusammenhalt, Vertrauen in die Führung, kollektive Selbstwirksamkeit und Erfolgsglaube (Optimismus).
- Maßnahmen psychologischer Kriegsführung können negativen Einfluss verhindern.
- Psychologische Kriegsführung kann auch direkt unbeteiligte Dritte betreffen, wenn es etwa darum geht, eine Kriegspartei international zu isolieren und im öffentlichen Ansehen zu schädigen.
Am 21.01.2023 wandten sich die Herausgeber der New York Times in einem Beitrag zum Krieg in der Ukraine nach eigener Aussage direkt an die russische Bevölkerung. Das Narrativ:
- der Russische Präsident Putin leide an Wahnvorstellungen
- er führe den Krieg im Namen der russischen Volkes und zerstöre damit die Zukunft des russischen Volkes
- der Krieg sei sinnlos, es gäbe kein erkennbares Kriegsziel, es sei unklar wann und wie er enden würde
- dafür würden ihre Söhne, Ehemänner und Väter getötet, verstümmelt und zu Gräueltaten gezwungen
- der Krieg würde Russland in langfristige internationale Isolierung führen
- es sei Zeit dem Krieg und dem Präsidenten die Unterstützung zu entziehen
Der Beitrag direkt von den Herausgebern weist typische Merkmale kognitiver Kriegsführung auf und erlaubt einen Blick auf typische strategische Stoßrichtungen im Informationskrieg: Er zielt offenkundig darauf, das Vertrauen in die Führung zu untergraben, Erfolgsglauben und Optimismus zu senken und die Geschlossenheit der generischen Kriegspartei zu schwächen. Er zielt auf internationale Isolation und Schädigung des moralischen öffentlichen Ansehens.
Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der Beitrag tatsächlich primär das genannte Ziel hatte, die russische Bevölkerung zu erreichen. Er war mindestens so geeignet, die eigene Bevölkerung zu motivieren, das Agieren der USA als Kriegspartei weiter zu unterstützen. Dafür spricht die englische Sprache und das Erscheinen in der New York Times – beides erreicht die Bevölkerung in den USA.
Eine breite Definition der kognitiven Kriegsführung definiert also zahlreiche Handlungsfelder: Es geht ganz grundlegend darum, die eigenen Bürger, Politiker, Medien, Soldaten etc. hinter eine (geplante) kriegerische Auseinandersetzung zu bringen und langfristig für das Vorhaben zu motivieren (Kriegsmoral). Gleichzeitig geht es darum, psychologische Schwachpunkte der eigenen Kriegspartei (z.B. Gesellschaften / Allianzen) zu erkennen und zu reduzieren. Unterschiedliche oder auch nur differenzierte Sichtweisen, Diskussionen, die Frage nach Alternativen sind dabei verständlicherweise unerwünscht. Es geht darüber hinaus darum, feindliche Maßnahmen psychologischer Kriegsführung zu erkennen, zu verhindern und zu unterbinden. Typischerweise entkoppelt man sich von den Medien und Informationsplattformen der anderen Konfliktpartei. Und es geht darum, das Schlachtfeld psychologischer Kriegsführung weltweit auf die internationale Wahrnehmung einer Konfliktpartei zu heben: Internationale Isolierung und Ächtung sind hier ein typisches psychologisches Kriegsziel.
Psychologie im Krieg: Revival
Konfrontiert mit herausfordernden Maßnahmen psychologischer Kriegsführung gibt es derzeit ein Revival dieses etwas „vergessenen“ Erfolgsfaktors in Europa.
Das liegt zum Einen daran, dass europäische Länder zunehmend Kriegsparteien sind. Ein markantes Beispiel ist der Krieg um die Ukraine. Demokratien sind noch mehr als autoritäre Regierungen angewiesen auf die Unterstützung der Wähler bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Die besten Waffen und alles Geld nutzen wenig, wen die Bürger eine militärische Handlung ablehnen. Diesen kriegsentscheidenden „Schwachpunkt“ versuchte etwa Russland bei der Reduzierung der Energielieferungen (Erdgas) nach Europa und der folgenden dramatischen Preisanstiege zu nutzen. Umgekehrt suchen westliche Länder durch Sanktionen die russische Bevölkerung zu animieren, ihre Unterstützung für die Politik einzustellen. Dem Kampf um die Köpfe ausgesetzt, sind politische Entscheider auch in Deutschland gefordert, sich mit dieser Facette der Kriegsführung auseinanderzusetzen.
Im Internetzeitalter mit seinen sozialen Medien geht der psychologische Krieg in die digitale Dimension. Die Zeiten von aus Flugzeugen abgeworfenen Flugzetteln, Lautsprecherdurchsagen an der militärischen Front und Radiosendern, die ins „Feindesland“ senden sind vorbei. An ihre Stelle ist die Einflussnahme auf Soziale Medien, das Hacken von Nachrichtenseiten und das Versenden von SMS getreten. Dahinter geht es um den effektiven Einsatz von Daten: Wer ist am ehesten empfänglich für welches Narrativ, wird es teilen? Wie wird welche Person auf welche Information reagieren? Das alles mit Algorithmen zu steuern beginnt gerade und wird den Kampf um die Köpfe in Zukunft definieren. Um sich davor zu schützen, hat insbesondere China seine sozialen Medien und sein Internet konsequent vom Westen entkoppelt.
Wie geht es weiter? Nukleare Abschreckung hat die direkte Konfrontation auf dem Schlachtfeld als Option derzeit blockiert. Interessenkonflikte und Kampf um die Vorherrschaft sind daher auf andere Bereiche verdrängt. Dazu gehören nicht nur Wirtschaftskrieg im weitesten Sinne, Unterwanderung, Spionage oder Stellvertreterkriege. Im großen Ausmaß haben sich die großen Player weltweit auf psychologische Schwachstellen „abgetastet“, mit denen sie sich zu schwächen suchen. Das Zeitalter des kognitiven Krieges ist nicht zu Ende. Die Kognitive Kriegsführung hat sich auf eine neue Stufe der Wirksamkeit und Professionalität begeben.
Weiter geht es mit einem Kapitel, das zeigt wie die Praktische Psychologie von der Angewandten Psychologie profitiert.