Nachbarwissenschaften der Wirtschaftspsychologie

Menschliches Verhalten in der Wirtschaft versucht nicht nur die Psychologie zu erklären. Es gibt daher zahlreiche Nachbarwissenschaften der Wirtschaftspsychologie, die in engem Austausch mit ihr stehen und den Stand der Forschung befruchten. Dieses Kapitel zeigt den Überblick dazu. …

Biologie ist eine Nachbarwissenschaft der Wirtschaftspsychologie

Wirtschaftswissenschaften

Neben der psychologischen bestehen zahlreiche weitere Perspektiven auf das Wirtschaftsleben. So kann Wirtschaft natürlich auch aus rechtlicher, ökologischer betriebswirtschaftlicher und anderen Perspektiven betrachtet werden. Wirtschaftspsychologie steht als angewandte Wissenschaft in engem Austausch mit diesen Wissenschaften. Man kann hier von Nachbarwissenschaften sprechen (vgl. v. Rosenstiel, 2007).

Psychologie bietet nur eine von vielen Perspektiven auf Wirtschaft

Hier sollen beispielhaft wichtige Nachbarwissenschaften dargestellt werden.

Kommunikationswissenschaften
Die Kommunikationswissenschaften übernehmen psychologische Theorien der Informationsverarbeitung und Informationssuche, sowie der Einstellungsänderung, um Natur und Wirkung von Kommunikation erklären und beschreiben zu können. Beispiele sind Modelle der Eigenschaften von Sendern der Kommunikation (wie z.B. Expertise, Motivation und Attraktivität) die die Effektivität von Kommunikation beeinflussen (vgl. Becker, v. Rosenstiel und Spörrle, 2007).

Betriebswirtschaftslehre
Innerhalb der Betriebswirtschaftslehre sind die Felder Personal, Organisation und Marketing zunehmend psychologisiert. So sind die aktuellen großen Themen im Marketing wie Markenführung, Kundenzufriedenheit, Kundenbindung oder Kundenbeziehungen genuin psychologisch und werden im Marketing auf Basis psychologischer Theorien aufgebaut.

Ingenieurswissenschaften
Ingenieurswissenschaften sind in starkem Austausch mit der Wirtschaftspsychologie. Erleben und Verhalten von Menschen zu verstehen ist wichtig, wenn Maschinen effektiv bedient werden sollen, Kunden sich in Gebäuden, wie Einkaufszentren, orientieren und wie geplant bewegen sollen oder Menschen technische Produkte, Software und Websites verwenden sollen.

Ökonomie
Seitdem immer offensichtlicher wird, dass mit einem rationalen Menschenbild ökonomische Prozesse nicht realistisch abbildbar sind, hat sich die Ökonomie stark für psychologische Inhalte geöffnet. So erhielt vielleicht als bekanntester Vertreter der Psychologe Daniel Kahneman den Nobelpreis für Ökonomie 2002 für seine Forschungen zum Entscheidungsverhalten.

Soziologie
Auch mit der Soziologie besteht ein enger Austausch. Phänomene wie Organisationen, Arbeitsgruppen oder Peer-Gruppen von Konsumenten sind letztendlich soziale Gebilde. Darüber hinaus ist die Sozialisierung von Mitarbeitern und Konsumenten von zentraler Bedeutung, um Erleben und Verhalten von Menschen im wirtschaftlichem Kontext erklären zu können.

Kulturwissenschaften
Mit zunehmender Globalisierung sind Kulturwissenschaften von entscheidender Bedeutung, um Unterschiede zwischen verschiedenen Ethiken beim Verhalten als Mitarbeiter in Organisationen oder als Konsumenten verstehen zu können. Oftmals besteht die Herausforderung, Mitarbeiter mit ganz verschiedenem kulturellen Hintergrund in ein leistungsfähiges Team zu integrieren. Im marktpsychologischen Bereich ist die Herausforderung Erleben und Verhalten von Konsumenten in verschiedenen kulturellen Kontexten zu erklären.

Biologie
Erleben und Verhalten hat eine neurologische Grundlage. Zur Erklärung und dem besseren Verständnis der Prozesse aber auch zur Überprüfung von psychologischen Theorien im wirtschaftlichen Kontext wird daher zunehmend die Biologie herangezogen.
Auch zunehmend in Form der evolutionären Theorien nimmt die Biologie spürbar deutlichen Einfluss auf die Psychologie. So hat sich hier die Evolutionäre Psychologie entwickelt, die Verhalten auf Grund von angeborenen, durch Selektion herausgebildete, Mechanismen, erklären kann. Ein bekannter Vertreter und auch Gründer der evolutionären Verhaltensforschung bei Menschen ist sicher der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der 1973 für seine Studien zur Organisation und Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltensmustern den Nobelpreis für Biologie erhielt.

Und es gibt zahlreiche weitere Wissenschaften, die ihren Blick auch auf Wirtschaft lenken, wie beispielsweise Philosophie, Ethik oder Geographie.

Mit all diesen Wissenschaften steht die Wirtschaftspsychologie in regem Austausch, man kann sie daher als Nachbarwissenschaften bezeichnen. Der nächste Abschnitt vertieft das beispielhaft an der Biologie.

Biologie und Wirtschaftspsychologie

Seit Jahrzehnten gibt es Forschung zu biologischen Grundlagen im Erleben und Verhalten von Mitarbeitern und Kunden. Grob kann man dabei vier Forschungsbereiche abgrenzen:

Evolution und Genetik
Beispielsweise ist die Tatsache, dass jemand Führungskraft wird (oder eben nicht) offenbar zu ca. 30 Prozent angeboren (Arvey et al., 2007; Chaturvedi et al., 2012). Konsistent zu diesen Ergebnissen konnte man einzelne Gene isolieren, die damit zusammen hängen (De Neve et al., 2013). Was viele Laien überrascht, ist für Experten wenig verwunderlich: Schließlich sind überdauernde Merkmale von Menschen (wie z.B. Extraversion, Intelligenz oder Körpergröße) stark genetisch beeinflusst und beeinflussen ihrerseits wieder deutlich die Wahrscheinlichkeit Karriere zu machen (z.B. Ng et al., 2005; Judge und Cable, 2004).

Hormone
Was sollen Hormone mit Wirtschaft zu tun haben? Eine Menge. Die Führungsforschung hat sich unter anderem früh für die Rolle des Hormones Testosteron interessiert. Dieses wird oft als „männliches Hormon“ bezeichnet, was übersieht, dass auch Frauen Testosteron produzieren. Tierversuche gaben erste Hinweise. Kühe, denen über zehn Wochen Testosteron verabreicht wurde, stiegen in der Rangordnung auf – aber nur gegenüber Kühen, die keine Hormone bekamen (Bouissou, 1978). Ähnliches zeigt sich bei anderen Tieren, etwa Hühnern (Rogers und Astiningsih, 1991) – Tiere, die Testosteron bekommen, steigen auf in der Hackordnung. Tiere, denen dagegen Östrogen verabreicht wurde, steigen systematisch ab in Hierarchien (Bouissou, 1990).
Aber bei Menschen mit ihrem Intellekt und ihren komplexen nach Rationalität aufgebauten Organisationen ist das sicher ganz anders! Hier ein paar Forschungsergebnisse: Testosteronspiegel (natürlich jeweils innerhalb der Gruppe der Männer und der Gruppe der Frauen getrennt) hängen zusammen mit Gehalt (Gielen, Holmes und Myers, 2016) und Erfolg als Unternehmer (Unger, Rauch, Weis und Frese, 2015). Allerdings sind die Befunde, so lange nur Testosteron isoliert betrachtet wird, nicht konsistent. Bei Menschen sind die hormonellen Zusammenhänge mit Dominanz und Status komplexer. Insbesondere das Stresshormon Kortisol hemmt die Wirkung von Testosteron und muss daher mit berücksichtigt werden (Mehta und Josephs, 2010; Carré und Mehta, 2011; Edwards und Casto, 2013). Entsprechend haben Führungskräfte mit hohem Testosteronwert und niedrigem Kortisolspiegel mehr Mitarbeiter unter sich, sie sind also höher in der Hierarchie (Sherman et al., 2016).

Phänotypen
Lange galt es als unwissenschaftlich und war verpönt – Zusammenhänge zwischen äußerlichen Merkmalen und psychologischen Eigenschaften und Wirkungen herzustellen. Es weckt Erinnerungen an Phrenologie (unwissenschaftliche frühe Versuche aus Schädelformen Charaktermerkmale abzulesen) und Forschungsgedanken aus dem dritten Reich.
Da das Aussehen von Menschen aber von deren Genetik und Hormonen mitgeprägt wird, wäre es eher verwunderlich, wenn man keine Zusammenhänge fände. Immerhin bei Füchsen zeigt sich, dass sich das äußere Erscheinen mit verändert, wenn man rein nach bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen auswählt und züchtet (Trut, Oskina und Kharlamova, 2009). Im betreffenden Fall wählte man über 60 Jahre lang über dutzende Generationen immer (nach streng definierten experimentellen Regeln) die zutraulichsten Füchse für die Zucht aus. Diese Auswahl rein nach Persönlichkeitsmerkmalen führte gleichzeitig zu morphologischen Veränderungen im äußeren Erscheinungsbild wie Schlappohren, nach oben gebogenen Schwänzen, fleckigem Fell und verkürzten und verbreiterten Schädelformen (Trut, Plyusnina und Oskina, 2004). Ähnlich zeigte sich bei Fischen eine morphologische Veränderung bei reiner Zucht nach Verhaltensmerkmalen (Dingemanse et al., 2009). Offenbar liegen den Verhaltensdispositionen und dem Erscheinungsbild mitunter die gleichen Gene zu Grunde. Die Ausprägungen im Charakter der Tiere und ihr Aussehen sind also sozusagen systematisch gekoppelt. Besonders typische Veränderungen in der Physiologie bei domestizierten Tieren sind als Domestication Syndrome bekannt. Dass diese Erkenntnisse auf Menschen übertragen werden, ist eine Frage der Zeit, die ersten Publikationen sind bereits da (z.B. Wilkins, Wrangham und Fitch, 2014).
Aktuell ist der wissenschaftliche Fokus bei Menschen noch auf die psychologische Wirkung der Phänotypen gerichtet. So finden sich systematisch bessere Chancen auf Führungspositionen zu kommen für große Menschen (z.B. Hensley, 1993; Judge und Cable, 2004) mit tiefen Stimmen (Tigue et al., 2012; Klofstad, 2016) und breiten Gesichtern (Alrajih und Ward, 2014). Ebenfalls haben attraktive Personen Vorteile in Führung (z.B. Judge, Hurst und Simon, 2009), Verkauf (z.B. Ahearne, Gruen und Jarvis, 1999) und Werbung (Eisend und Langner, 2010).

Neurologie
Neurologische Strukturen und Aktivitäten stehen im Zusammenhang mit jedem relevanten Verhalten und Erleben von Kunden und Mitarbeitern, etwa Entscheidungsverhalten (Laureiro-Martínez et al., 2015; Rampl, Opitz, Welpe und Kenning, 2016).

Der letzte Abschnitt gibt Literaturhinweise zur weiteren Vertiefung.

Biologische Psychologie: Literatur

Aktuelle Literatur-Tipps zu biologischer Psychologie.

Tipp
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Tipp

Nicht zuletzt durch diese Nachbarwissenschaften ist die Entwicklungsgeschichte der Wirtschaftspsychologie geprägt. Das nächste Kapitel skizziert prägnant die Geschichte der Wirtschaftspsychologie.