In einer Welt, in der objektive Unterschiede zwischen Angeboten und harte Wettbewerbsvorteile schwinden, gibt es neue Regeln. Mittlerweile entscheidet der Kampf um die Köpfe von Kunden und Mitarbeitern über die Zukunft von Unternehmen. Unternehmen und Führungskräfte entdecken zunehmend den Menschen als Erfolgsfaktor. Wirtschaftspsychologie ist für sie der Schlüssel, um auf diesem neuen Spielfeld zu gewinnen.
Aber was versteht man unter Wirtschaftspsychologie? Was ist der Unterschied zu anderen, verwandten Disziplinen? Was lernt man in Wirtschaftspsychologie, in welchen Gebieten forscht sie? Warum ist sie relevant, was macht man damit?
Das diskutiert dieses Kapitel. Es gibt eine Definition, zeigt die Inhalte und erklärt die wachsende Bedeutung dieser spannenden Disziplin der Psychologie. …
In diesem Beitrag:
Definition von Wirtschaftspsychologie
Was ist Wirtschaftspsychologie? Psychologie ist die empirische Wissenschaft vom Erleben und Verhalten der Menschen. Als Teilbereich der Psychologie hat Wirtschaftspsychologie folgende wissenschaftliche Definition:
- Es geht, wie die Definition zeigt, einerseits um das Verhalten von Menschen – etwa Kauf, Produktverwendung, Mediennutzung von Kunden oder Arbeitsleistung, Kündigung und Kommunikationsverhalten bei Mitarbeitern.
- Andererseits ist das Erleben von Menschen Gegenstand der Wirtschaftspsychologie – also Dinge wie Gedächtnisinhalte, Zufriedenheit, Vertrauen, Sympathie, Einstellungen, Werte, Emotionen, Motive und Motivation.
Natürlich bestehen gewisse Überlappungen, insbesondere mit den Nachbarwissenschaften Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre. So sind einige aktuelle Themen der Betriebswirtschaftslehre wie etwa Markenführung oder Kundenbeziehungsmanagement deutlich psychologisch geprägt. Ebenso stehen moderne Teilbereiche der Volkswirtschaftslehre wie Verhaltensökonomie oder auch die klassische Mikroökonomie in engem Austausch mit psychologischer Forschung. Da es bisher keinen Nobelpreis für Psychologie gibt, haben Psychologen tatsächlich mitunter den für Ökonomie bekommen (etwa Daniel Kahneman).
Trotz allem Austausch: Man kann Wirtschaftspsychologie sehr gut von anderen Wissenschaften abgrenzen.
Wirtschaftspsychologie als Wissenschaft: Abgrenzung
Wie ist Wirtschaftspsychologie von anderen Wissenschaften abgegrenzt? Ökonomen und Betriebswirte bestimmen mit ihren Begriffen und Zahlen unser Bild des Wirtschaftsgeschehens. Vieles in der Wirtschaft hört sich erst einmal hart, objektiv und eher technisch an. Menschen sind Begriffe gewohnt wie Arbeitsleistung und Produktivität, Absatzzahlen, Aktienkurse oder auch gesamt-ökonomische Aspekte wie das Bruttoinlandsprodukt und Unternehmensgründungen. Wozu also, könnten man sich fragen, braucht es da Wirtschaftspsychologie?
Wer genau hinsieht, stellt fest, dass all die genannten, scheinbar harten Aspekte des Wirtschaftslebens das Ergebnis der Entscheidungen von Menschen sind. Diese oft noch ungewohnte Perspektive lässt sich mit ein paar Bildern veranschaulichen:
- Der individuelle Mitarbeiter, der sich weiterbildet und motiviert arbeitet – oder eben auch nicht und damit die Produktivität beeinflusst.
- Die Führungskraft, der es gelingt Mitarbeiter zu motivieren und sinnvoll einzusetzen.
- Oder das Bild eines Kunden, der ein Angebot kauft und ein anderes nicht und damit den Absatzzahlen zu Grunde liegt.
- Der Verkäufer, der seine Kunden und ihr Verhalten versteht und sein Angebot gegen Wettbewerber durchsetzt.
- Ein Investor, der bereit ist, für eine Aktie einen bestimmten Preis zu zahlen und so mit den anderen Investoren den Aktienkurs bestimmt.
- Das Bild eines jungen Unternehmers, der sich entscheidet ein Startup zu gründen, Kunden gewinnt und damit das Bruttoinlandsprodukt erhöht.
Diese Perspektive zeigt eine Tatsache: Wirtschaft ist letztlich ein soziales Phänomen. Alle wirtschaftlichen Strukturen – wie Unternehmen, Handelsnetze, Kundengruppen oder Marktsegmente – und sämtliche Prozesse in der Wirtschaft – wie z.B. Konsum, Investition oder Arbeit – sind das Ergebnis der Entscheidungen und des Verhaltens einzelner Individuen oder hängen stark davon ab. Es ist ähnlich wie bei einem Eisberg, bei dem nur die eher kleine Spitze über dem Meer sichtbar ist. So liegt auch unter den oberflächlich sichtbaren Erscheinungen der Wirtschaft, auf die sich die Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre konzentrieren, eine Basis. Und genau hier setzt die Wirtschaftspsychologie an, wie die Abbildung zeigt.
Fazit: Während der Fokus von Nachbarwissenschaften der Wirtschaftspsychologie wie BWL und VWL fast ausschließlich auf den harten Erscheinungen der Wirtschaft liegt (z.B. BIP, Absatzzahlen), liegt der Fokus der Wirtschaftspsychologie auf den zu Grunde liegenden Prozessen im Erleben und Verhalten von Menschen (z.B. Entscheidungen, Motivation). Will man wirtschaftlichen Gegebenheiten wirklich verstehen oder wirksam beeinflussen, dann ist das Verständnis des Erlebens und Verhaltens von Menschen im Wirtschaftsleben ein wichtiger Schlüssel. Wirtschaftspsychologie öffnet den Blick hinter die offensichtliche Oberfläche der Wirtschaft. Sie macht die Menschen sichtbar, die Wirtschaft ausmachen mit ihrem Verhalten. Und sie geht noch tiefer, in die Köpfe der Menschen, erforscht das Erleben in all seinen Facetten. Sie präsentiert eine Welt aus Emotionen, Wissen, Einstellungen, Motiven, Entscheidungen, Gedächtnis, Persönlichkeitsmerkmalen. Sie zeigt die Zusammenhänge zwischen genetischen Merkmalen und Konsumverhalten, zwischen Hormonen und Führungserfolg sowie von Musik und Preisakzeptanz. Sie breitet das neue Spielfeld aus, auf dem Unternehmen immer mehr im Wettbewerb stehen.
Der nächste Abschnitt zeigt die Bereiche, in denen Wirtschaftspsychologen forschen und wirken.
Wirtschaftspsychologie: Inhalte und Bereiche
Welche konkreten Inhalte hat Wirtschaftspsychologie? Was lernt man in Wirtschaftspsychologie? Der Fokus von Wirtschaftspsychologie liegt auf drei großen Themengebieten, wie folgende Abbildung zeigt.
Forschungsgebiete und Inhalte der Wirtschaftspsychologie sind also:
- Erleben und Verhalten von Kunden
- Erleben und Verhalten von Mitarbeitern und
- Erleben und Verhalten auf Märkten.
Sie liefert damit ganz konkret wertvolle Entscheidungshilfen und Modelle, um anwendungsbezogene Fragen effektiv zu lösen. Der Schaukasten zeigt typische Fragen aus der Praxis an die Wirtschaftspsychologie.
Für die drei skizzierten Themengebiete gibt es eine Unzahl an Bezeichnungen: Marketingpsychologie, Werbepsychologie, Verhaltensökonomie, Organisationspsychologie, Personalpsychologie… Es schwirren eine Menge an Begriffen herum, die letztendlich der Wirtschaftspsychologie zuzuordnen sind und oft ähnliches beinhalten. Man bekommt den Eindruck, dass zu jedem neuen Thema in der Wirtschaft auch von jemandem eine neue „Psychologie“ ausgerufen wird. An dieser Stelle daher eine Übersicht über diese Begriffsvielfalt in der Wirtschaftspsychologie. Bei aller Betonung der Unterschiede zwischen den Begriffen von den jeweiligen Personen, die sie verwenden, kann man Wirtschaftspsychologie grob in drei große Strömungen zusammenfassen. Das macht folgende Tabelle.
Fokus Kunden | Fokus Mitarbeiter | Fokus Märkte |
---|---|---|
Bereiche: Konsumentenpsychologie, Marketingpsychologie, Verkaufspsychologie, Werbepsychologie … |
Bereiche: Arbeitspsychologie, Betriebspsychologie, Führungspsychologie, Organisationspsychologie, Personalpsychologie … |
Bereiche: Finanzpsychologie, Verhaltensökonomie, Ökonomische Psychologie … |
Auf Englisch: Advertising Psychology, Consumer Behavior, Marketing Psychology, Sales Psychology … |
Auf Englisch: Business Psychology, Industrial Psychology, Leadership Psychology, Occupational Psychology, Organizational Behavior, Work Psychology … |
Auf Englisch: Behavioral Finance, Behavioral Ecomomics, Economic Psychology … |
Eine Strömung der Wirtschaftspsychologie hat also Kunden als Fokus, eine zweite Strömung konzentriert sich auf Themen rund um Mitarbeiter und eine dritte Strömung forscht zu Gesamtmärkten bzw. ökonomischen Fragestellungen.
Andere Bereiche der Psychologie liegen zumindest sehr nahe an der Wirtschaftspsychologie.
- So befasst sich Medienpsychologie mit der Auswahl, Nutzung und Wirkung von Medien. Sie kann letztlich dem Fokus Kunden zugeordnet werden, da dieser Medien auswählt und nutzt und am Ende dort auch die Wirkung erzielt wird.
- Ingenieurspsychologie befasst sich mit Mensch-Maschine-Schnittstellen. Oft spricht man in der Praxis von User Experience (UX), Usability oder HMI (Human Machine Interaction). Dieser Bereich liegt etwas quer zu den Strömungen, da er sowohl eine große Bedeutung bei der Arbeit (Fokus Mitarbeiter) als auch bei Kunden hat. Typische Beispiele wären Software bzw. Websites, die für Mitarbeiter oder Kunden psychologisch zu optimieren sind.
Der nächste Abschnitt geht auf die Bedeutung von Wirtschaftspsychologie ein.
Bedeutung: Wirtschaftspsychologie als Chance
Warum ist Wirtschaftspsychologie relevant? Was kann man mit Wirtschaftspsychologie machen? Die vorangehenden Abschnitte haben es bereits verdeutlicht: Wirtschaft ist das Ergebnis der Entscheidungen von Menschen. Und diese Entscheidungen sind oft wenig rational. Das kann man unter anderem an den führenden Unternehmen in verschiedenen Bereichen feststellen: Konzerne wie Apple, BMW oder Coca-Cola haben sich lange von einem rationalen Menschenbild verabschiedet, wenn sie ihre Kunden ansprechen. Und moderne Führungsansätze haben sich von einem transaktionalen Ansatz – Geld gegen Leistung – zu einem transformationalen Ansatz bewegt, der Mitarbeiter ideologisiert und zu emotionalisierten Anhängern ihrer Organisationen formt. Ein Wandel, der in der breiten Öffentlichkeit und den Medien bisher kaum ein Thema ist, relativ verborgen stattfindet.
Diese Beispiele illustrieren: Im zunehmenden Wettbewerb um die Entscheidungen der Kunden und die leistungsfähigsten Mitarbeiter und Teams bietet die Wirtschaftspsychologie den Unternehmen die geeigneten Instrumente. Und der Bedarf an Wirtschaftspsychologie nimmt weiter zu. Rein technische Fachkenntnisse und Kompetenzen sind zwar wichtig, aber heute oft nicht mehr ausreichend für den Erfolg von Unternehmen – zu viele Unternehmen sind hier bereits wirklich gut. Die Wettbewerbsfelder der Zukunft liegen in den Köpfen der Mitarbeiter und Kunden. Manche Unternehmen erkennen das und bewegen sich in diese Richtung, die meisten Unternehmen sind hier aber noch lange nicht professionell. Das Potenzial nach oben ist also noch gewaltig. Ein Beispiel zeigt der folgende Schaukasten.
Und das Beispiel Mitarbeitermotivation aus dem Schaukasten ist nur eines von vielen. Viele Unternehmen sind unerfahren, was Psychologie von Mitarbeitern und Kunden angeht. Sie schöpfen die Potenziale kaum aus und es ist für Wettbewerber noch relativ leicht, hier einen entscheidenden Vorteil zu gewinnen. Um den psychologischen Herausforderungen wirksam zu begegnen, orientieren sich daher einige Unternehmen neu, gehen voran. Dort trifft man beispielsweise auch direkt unter der Vorstandsebene funktionsübergreifende Strukturen, die sich ausschließlich mit dem Erleben und Verhalten der Kunden oder Mitarbeiter beschäftigen. Auch bei internen Herausforderungen wie Change-Prozessen und Fusionen betrachten und erleben Führungskräfte immer mehr die psychologische Komponente als erfolgskritisch, ja sogar als ausschlaggebend. Aber noch ist so etwas die Ausnahme und nicht die Regel. Die Regel sieht eher so aus, wie der folgende Schaukasten etwas überspitzt symbolisch zeigt.
Es gibt also viel zu tun für Wirtschaftspsychologen.
Der letzte Abschnitt gibt Hinweise für Bücher zur weiteren Vertiefung.
Wirtschaftspsychologie: Literatur und Bücher
Auf der Suche nach einem Buch zu Wirtschaftspsychologie? Hier aktuelle Literatur-Tipps:
Das nächste Kapitel geht auf Berufsfelder der Wirtschaftspsychologie ein. Was machen Wirtschaftspsychologen konkret?