Wirtschaftspsychologie soll eine Brücke zwischen Grundlagenforschung und Praxis sein. Dieses Kapitel zeigt die Herausforderungen, damit Wirtschaftspsychologie nicht am Ende eine Abgewandte Psychologie anstelle einer Angewandten Psychologie wird. …
In diesem Beitrag:
Grundlagenforschung als Quelle für Wirtschaftspsychologie
Hugo Münsterberg, der als Vater der Wirtschaftspsychologie gilt, hat diese schon 1912 umfassend als die Anwendung von Psychologie für wirtschaftliche Fragestellungen konzipiert (vgl. Münsterberg, 1912, Kapitel 3). Wirtschaftspsychologie ist die psychologische Perspektive auf wirtschaftliche Aspekte und Fragestellungen. Dies bezieht außer der Anwendung auch die Forschung und die Entwicklung von Theorien mit ein.
Wirtschaftspsychologie sollte die Ergebnisse psychologischer Grundlagenforschung für die aus der Anwendung herangetragenen Fragestellungen nutzbar machen. Idealerweise befruchtet sie als Brücke zwischen Anwendung und Grundlagenforschung zudem die Entwicklung theoretischer Modelle in der Grundlagenforschung.
Die Realität sieht allerdings nicht ganz so romantisch aus (vgl. z.B. Schönpflug, 1993).
So interessieren sich Grundlagenforscher in der Regel wenig für die Anwendung ihrer Theorien. Das spiegelt sich auch in der Lehre wieder. Eine Analyse zeigt, dass in klassischen einführenden Lehrbüchern der Psychologie weniger als ein Prozent der Inhalte der Wirtschaftspsychologie zugeordnet werden können. Viele der Lehrbücher sprechen Wirtschaftspsychologie erst einmal überhaupt nicht an (Raley, Lucas und Blazek, 2003). Offenbar interessieren sich Grundlagenforscher der Psychologie hauptsächlich für Theorien um deren selbst willen.
Angewandte Forscher dagegen interessieren sich für die Lösung von Herausforderungen im Anwendungskontext der Wirtschaftspsychologie. Das führte insgesamt dazu, dass die Angewandte Psychologie häufig ganz eigene Theorien entwickelte, um praktischen Herausforderungen zu begegnen. Entsprechend finden sich im akademischen Berufsfeld Wirtschaftspsychologen meist an Business Schools und kaum in psychologischen Departements als Dozenten und Forscher (Shimmin und Wallis, 1994).
Fazit: Die Angewandte Psychologie konnte bisher nicht ausreichend von der Grundlagenforschung profitieren. Viele angewandt forschende Wissenschaftler haben wenig Bezug zur Grundlagenforschung. In der Psychologie besteht damit ein starker Bedarf an Transfer von grundlagenorientierter Forschung und angewandter Forschung.
Wie sieht die Beziehung der Wirtschaftspsychologie zur Praxis aus? Diesen Aspekt behandelt der nächste Abschnitt.
Wirtschaftspsychologie als Ideengeber für die Praxis
Wirtschaftspsychologie steht im Spannungsfeld von Grundlagenforschung und Praxis. Nicht zuletzt ist die Praxis der Kunde einer angewandten Wissenschaft. Wie überall, gilt es intensiven Kontakt mit seinen Kunden zu pflegen, deren Bedürfnisse zu kennen und vorherzusagen, um ihnen entsprechende Angebote machen zu können. Dieser Aufgabe wird die Wirtschaftspsychologie noch nicht ausreichend gerecht, bringt ihr Anwendungspotenzial nur zu einem Bruchteil zum Ausdruck. Obgleich Wissenschaftler wie Hugo Münsterberg oder Walter Dill Scott sehr umfassende Konzepte vorlegten (vgl. z.B. Scott, 1911; Münsterberg, 1912), ist eine entsprechende Platzierung als Angebot in der Praxis oftmals lange nicht gelungen. Ein breites Spektrum an Potenzial wird so in der Anwendung nicht realisiert, die wenigsten Unternehmen haben wirklich Ahnung von Psychologie im Umgang mit Kunden oder Mitarbeitern. Statt Fakten bestimmen Alltagspsychologie, Gewohnheit und scheinbare Vernunft den Alltag im Umgang mit Mitarbeitern und Kunden. Was sind die Gründe?
kaum Struktur und Verantwortliche in der Praxis
So sind psychologische Themen wie Mitarbeitermotivation, Führung und das Verständnis der Kaufentscheidungen von Kunden Felder mit sehr gr0ßem Wettbewerbspotenzial für die Zukunft. Unternehmen haben hier aber meistens wenig Expertise und keine zentral verantwortlichen Personen – es ist nicht wirklich gelungen, Psychologisches Denken, Wissen und Handeln in die meisten Unternehmen zu bringen.
wenig Praxisbezug vieler Lehrstühle
Ursachen für einen mangelnden Praxistransfer liegen auch im Kontakt mit den Kunden in der Praxis. Einige Lehrstühle, die der Wirtschaftspsychologie zuzuordnen sind, werden von Lehrstuhlinhabern ohne entsprechende praktische Erfahrung und ohne ausreichend Kontakt zur Praxis geführt, die einen stark grundlagenwissenschaftlichen Hintergrund haben. Einige haben sogar zusätzlich wenig Bezug zur praktischen Anwendung – „waren noch nie in einem Unternehmen“. Dass die hier entwickelten Antworten nicht unbedingt zu den Fragestellungen in der Praxis passen und wenn dann verspätet kommen, liegt auf der Hand. Zudem fällt es so natürlich schwer, neue Angebote in der Anwendung zu platzieren und zu kommunizieren.
kein Wissenschaftstransfer von Seiten der Praxis
Eine weitere Problematik in diesem Kontext: Die wissenschaftlichen Publikationen aus englischsprachigen Journals werden in der Praxis nicht gelesen, sind nicht verständlich gestaltet. Dafür lesen viele in der Praxis Bücher von selbsternannten Experten und Management-Gurus, die ohne wissenschaftliche Ausbildung und Fakten sagen „wo es lang geht“.
Auftragnehmer statt Ideengeber
Die mangelnde Bekanntheit wirtschaftspsychologischer Angebote liegt anscheinend auch an der nicht nur, wie bereits angeführt, verbesserungsfähigen, sondern darüber hinaus auch recht einseitigen Beziehung zur Praxis. Offenbar prägen die in den Unternehmen vorherrschenden Sichtweisen die Aufmerksamkeit und Spezialisierung der Wissenschaft stark. So spiegelt sich die Orientierung an der Produktion in den Unternehmen im Taylorismus und der Blütezeit der Arbeitspsychologie wider. Beispielsweise mündet die Unterteilung der Funktionen in Unternehmen – etwa Produktion und Vertrieb – dann in der Spezialisierung der Wirtschaftspsychologie in Arbeitspsychologie und Marktpsychologie. Unterschiedliche Berufszweige mit unterschiedlichen Bedürfnissen wandten sich an die Wirtschaftspsychologie und übergreifende Fragestellungen gerieten damit in den Hintergrund.Die Nachfrage aus der Praxis zeigt sich hier als Motor und Antrieb aber auch als Lenker und Steuermann der wirtschaftspsychologischen Forschung. Augenscheinlich hat die Wirtschaftspsychologie ihre durchaus vorhandenen Ideen nicht ausreichend als innovative Angebote in die Anwendung vermittelt, sondern häufig nur die von dort direkt gestellten Fragen beantwortet, statt eigene Vorschläge zu positionieren.
Zusammenfassend ist die Beziehung der Wirtschaftspsychologie zur Anwendung verbesserungsfähig: Es herrscht zu wenig Kontakt mit der Anwendung und den dortigen Bedürfnissen, die Beziehung ist zu passiv, wenig kundenorientiert und die Angebote kommen mitunter zu spät oder nicht. Noch schlimmer: Zu viele Praktiker holen sich ihre Expertise für den Umgang mit Mitarbeitern und Kunden aus sehr riskanten Quellen. Es gibt ein Phänomen, das Psychologie von anderen Wissenschaften unterscheidet: Die gleichen Personen, die sich niemals anmaßen würden, zu erklären, wie ein Computer funktioniert („Sorry, da habe ich keine Ahnung, frag mal einen Informatiker!“), haben überhaupt keine Hemmung psychologische „Wahrheiten“ und Tipps von selbsternannten Experten für das Verhalten von Kunden oder Mitarbeitern voller Überzeugung zu übernehmen und zu verbreiten. Sie lassen sich Psychologie, wenn man es hart formuliert, von ihrem Frisör erklären.
Der Schaukasten zeigt an einem Beispiel welche Risiken entstehen, wenn Wirtschaftspsychologie das Feld selbsternannten Experten für Psychologie überlässt.
Beispiel: Risiken durch selbsternannte Experten für Psychologie
Ein ganzes Heer an Coaches, Ex-Managern, Militärs, Ex-Sporttrainen und anderen Quereinsteigern „beglückt“ die Praxis mit leicht zu lesenden und simpel zu verstehenden Weisheiten und Tipps zur Psychologie von Mitarbeitern. Oft hören sich diese Hinweise und Empfehlungen für viele Praktiker auf den ersten Blick vernünftig an und werden ohne weitere Prüfung angewandt – ausbaden müssen es die Mitarbeiter, freuen können sich höchstens die Wettbewerber. Hier sollte die Wirtschaftspsychologie vorhandene Forschung und Fakten besser in die Praxis transportieren, um den gröbsten Unfug zu verhindern.
Ein anschauliches Beispiel für derartige „wertvollen“ Führungstipps vom selbsternannten Experten für Psychologie kann das Konzept von General Kurt von Hammerstein-Equord gelten. Dieser sagte (zitiert nach Poller, 2010, S. 432):
„Ich unterscheide vier Arten. Es gibt kluge, fleißige, dumme und faule Offiziere. Meist treffen zwei Eigenschaften zusammen. Die einen sind klug und fleißig, die müssen in den Generalstab. Die nächsten sind dumm und faul; sie machen in jeder Armee 90 % aus und sind für Routineaufgaben geeignet. Wer klug ist und gleichzeitig faul, qualifiziert sich für die höchsten Führungsaufgaben, denn er bringt die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen mit. Hüten muss man sich vor dem, der gleichzeitig dumm und fleißig ist; dem darf man keine Verantwortung übertragen, denn er wird immer nur Unheil anrichten.“
Die Risiken derartiger Alltagspsychologie liegen auf der Hand: Was wenn man stumpf die Empfehlungen von General Kurt von Hammerstein-Equord bei der Personalauswahl umsetzt, weil sie einem so überzeugend erscheinen?
Top-Führungspositionen: Personen mit geringer Leistungsmotivation aber hoher Intelligenz
mittlere Führungsebene: Personen mit hoher Leistungsmotivation und hoher Intelligenz
untere Ebenen: Personen mit niedriger Leistungsmotivation und niedriger Intelligenz
Nicht eingestellt bzw. entlassen würden: Personen mit hoher Leistungsmotivation aber geringerer Intelligenz
Ohne genaue empirisch-wissenschaftliche Überprüfung geht man eine ziemliche Wette ein, dass es schon gut laufen wird.
Was wenn noch ganz andere Eigenschaften für erfolgreiche Führung wichtig sind? So sind beispielsweise Extraversion, Offenheit für Veränderung, Verträglichkeit und emotionale Stabilität wesentliche Merkmale, die mit Führungserfolg zusammenhängen (Judge et al., 2002).
Was wenn Leistungsmotivation generell positiv für den Führungserfolg ist? Es sieht eher danach aus (vgl. Judge et al., 2002).
Was wenn die als Argument für die Auswahl der faulen angeführte Nervenstärke auf einer ganz anderen Persönlichkeitsdimension liegt und nichts mit Faulheit zu tun hat? Tatsächlich ist die genannte Nervenstärke in Form von emotionaler Stabilität dem Führungserfolg zuträglich (z.B. Judge et al., 2002). Nur: Nervenstärke ist dem Persönlichkeitsfaktor emotionale Stabilität zuzuordnen, der tatsächlich nichts mit Leistungsmotivation zu tun hat, welche eher auf dem Faktor Gewissenhaftigkeit liegt (Hurtz und Donovan, 2000). Es gibt also sowohl faule als auch fleißige Personen, die nervenstark sind.
Was wenn die Idee faule und dumme Personen als Basis (90 Prozent!) zu nutzen, schlechte Ergebnisse produziert? Es sieht danach aus, dass Leistungsmotivation (in Form von Gewissenhaftigkeit) die Leistung von Mitarbeitern durchaus steigert (Hurtz und Donovan, 2000) und mangelnde Intelligenz die Leistung eher gefährdet (z.B. Schmidt, 2002). Die Maßnahme hier nur dumme und faule Personen auszuwählen, dürfte also stark nach hinten losgehen.
Erst ein empirisch gestützter, wissenschaftlicher Blickwinkel zeigt also klar Risiken und Chancen auf und hilft mit zutreffenden Menschenbildern zu arbeiten. So kann viel Blödsinn verhindert werden – nur geht man in der Praxis selten so ran, man arbeitet fröhlich mit seinen lieb gewonnen Menschenbildern im Umgang mit Kunden und Mitarbeitern.
Hier sollen jedoch nicht nur Defizite angesprochen werden, sondern auch sich daraus ergebende Chancen aufgezeigt werden.
Kundenkontakt
Die Praxis sollte innerhalb der Wirtschaftspsychologie als Kunde mit Bedürfnissen betrachtet werden. Es darf keine Scheu geben, in neue Anwendungsgebiete zu gehen. Ein intensiverer Austausch mit den Unternehmen und Aufmerksamkeit für Entwicklungen und Trends in den Unternehmen und ihrer Umwelt sind unerlässlich, um wichtige Fragestellungen vorherzusehen und rechtzeitig Lösungen anbieten zu können. Geht der Kontakt mit der Anwendung verloren, verliert auch die Wirtschaftspsychologie ihre Rechtfertigung und Grundlage als angewandte Psychologie.
Proaktivität
Wirtschaftspsychologie sollte selbstbewusst und aktiv Impulse für Fragestellungen geben und ihre Angebote proaktiv platzieren. Eine Chance für die Wirtschaftspsychologie ist es also, nicht nur die vordergründigen Fragestellungen aus der Praxis aufzugreifen und zu bearbeiten, sondern die Probleme im Hintergrund zu erkennen und aktiv Lösungen in die Praxis zu bringen, anstatt zu warten, bis die Fragen von außen kommen.
Tempo
Eine der großen Herausforderungen für die Wirtschaftspsychologie ist dabei, Impulse aus der Praxis schneller aufzugreifen. Der Zeitaspekt wird insbesondere wegen der zunehmend dynamischen Entwicklung der Unternehmen und ihrer Umwelt immer relevanter. Im Zweifelsfall kann es sonst passieren, dass die von der Wissenschaft entwickelte Antwort erst vorhanden ist, wenn die Fragestellung bereits veraltet ist.
Austausch mit Nachbarwissenschaften
Dafür ist es nicht nur wichtig, sich an der Praxis und den Fragestellungen aus den Unternehmen zu orientieren. Auch ein verstärkter Austausch mit anderen Wissenschaften wie der Betriebswirtschaftslehre erlaubt die Vorhersage und das rechtzeitige Aufgreifen von wichtigen Fragestellungen.
Der letzte Abschnitt gibt Literaturhinweise zur weiteren Vertiefung.
Wirtschaftspsychologie: Literatur
Aktuelle Literatur-Tipps zu Wirtschaftspsychologie.