Psychologie berührt das Thema Ethik in vielfältiger Weise. Einerseits in der Forschung mit Menschen und Tieren. Noch viel stärker aber in der Anwendung, wo es um das Verändern des Erlebens (also z.B. des Denkens, Fühlens, Wollens oder der Entscheidungen) und des Verhaltens von Menschen geht. Das betrifft insbesondere die Wirtschaftspsychologie. Jede Veränderung von Emotionen, Motiven oder Entscheidungen ohne Information und Einwilligung der betreffenden Personen wirft unmittelbar ethische Fragen auf. Das gilt umso mehr, wenn nicht durchschaubare Techniken angewendet werden.
Was also sind geeignete ethische Richtlinien der Psychologie? Gibt es allgemein gültige zentrale ethische Prinzipien und Regeln für Psychologinnen und Psychologen? Kann man eine Berufsethik der Psychologie skizzieren? Darum geht es in diesem Kapitel. …
In diesem Beitrag:
Ethik und psychologische Forschung
Psychologie berührt ethische Fragen bereits bei der Forschung. In wie weit werden Menschen oder Tiere mit Stress belastet, ggf. sogar mit Schmerzen? Was passiert mit den Daten von Versuchsteilnehmern? In wie fern werden Teilnehmer über die tatsächlichen Forschungsziele (nach) einem Versuch aufgeklärt? Wie sehr wird in das psychische Geschehen in einem Versuch eingegriffen? Welche Langzeitfolgen für Teilnehmer sind vertretbar?
Ein konkretes Beispiel für ein Experiment, bei dem genau solche Fragen auftreten, zeigt der Schaukasten.
Forschungsbeispiel: Milgram, 1963
Die Milgram-Studies haben unter dem Begriff „Elektroschock-Experimente“ auch über die Fachwelt hinaus Aufmerksamkeit erhalten. Vermutlich sind sie die bekanntesten Experimente der Psychologie. Aber bereits damals wurde Milgram heftig attackiert wegen unethischen Verhaltens (Baumrind, 1964), aus der APA (American Psychological Association) vorübergehend ausgeschlossen, war in der Folge beruflichen Nachteilen ausgesetzt. Was war geschehen, es wurden doch gar keine echten Schocks verabreicht? Hier ein kompakter Überblick:
Fragestellungen: Ursprünglich ging es Stanley Milgram darum, Bedingungen für Gehorsamkeit zu erforschen. Ein abstrakterer Hintergrund war, die Geschehnisse im Dritten Reich psychologisch besser einordnen zu können und auch die damals diskutierte These „Germans are different“. Insbesondere testete Milgram verschiedene konkrete Variablen auf deren Zusammenhänge mit Gehorsamkeit: Den Status der Person, der Versuchsteilnehmer gehorchen sollten, die Exposition der Versuchsteilnehmer mit der Person, der sie Stromschläge verabreichen sollten, das Geschlecht und die Nationalität der Versuchsteilnehmer.
Ablauf: Der Ablauf einer Serie von Untersuchungen war immer ähnlich. Es gibt drei wichtige Personen: Einen Versuchsleiter, der dazu auffordern wird Stromschläge zu verabreichen; einen Versuchsteilnehmer in der Rolle als „teacher“, der Stromschläge verabreichen soll; einen Schauspieler, den der Versuchsteilnehmer für einen anderen Teilnehmer hält, in der Rolle als „learner“, der scheinbar die Stromschläge erhält, tatsächlich aber natürlich nur die Schmerzen simuliert.
Rekrutierung der Versuchsteilnehmer: u.a. über Inserate in Zeitungen holte man Teilnehmer für ein Experiment zum „Lernen“ an einer namhaften Universität.
Betonung des Status des Versuchsleiters: In der renommierten Universität empfing ein großer älterer Herr im weißen Kittel die Teilnehmer. Er stellte sich als Leiter des Labors vor, nannte das Forschungsvorhaben „Memory Project“, zeigte ein sehr dickes Buch. Alles um die Wissenschaftlichkeit und seinen Status zu unterstreichen.
Mitteilung einer vorgeschobenen wissenschaftlichen Fragestellung: Es gehe um die Effekte von Bestrafung auf den Lernerfolg, etwa die Frage wie stark eine Bestrafung sein sollte, ob es einen Unterschied mache, wer bestraft (Frauen, Männer, ältere oder jüngere Personen) usw.
Scheinbares Verlosen der Rollen als Lehrer und Lernender (teacher vs. learner): Versuchsteilnehmer zogen gemeinsam mit einem Schauspieler, der sich auch als ganz normaler Teilnehmer ausgab, einen Zettel. Sie wurden immer in die Rolle Lehrer zugewiesen, da auf beiden Zetteln „teacher“ stand, der Schauspieler aber einfach rief „Learner!“ und seinen Zettel nicht zeigte.
Erklärung des experimentellen Settings: Es gibt eine Liste mit sinnlosen Wortpaaren. Diese soll der „Lernende“ lernen. Der „Lernende“ bekommt immer eines der Worte genannt und muss aus vier Alternativen das richtige dazugehörende Wort wählen, indem er eine von vier Tasten drückt. Er bekommt Rückmeldung, ob es das richtige Wort war. Immer wenn er das falsche auswählt, soll der Versuchsteilnehmer ihm einen Stromschlag verabreichen.
Verstärkung der Glaubwürdigkeit des Versuchs: Der Versuchsteilnehmer bekommt die Vorrichtung zur Verabreichung der Stromschläge erklärt, erhält selbst einen schwachen Stromschlag und sieht wie der Lernende an einem Stuhl fixiert wird und Elektroden mit elektrischer Leitpaste angelegt bekommt. Er hört mit an, wie der Lernende dem Versuchsleiter von einem Herzleiden erzählt und von diesem beruhigt wird, dass dies kein Problem sei.
Räumliche Trennung: Der Versuchsteilnehmer kommt in einen anderen Raum vor die Vorrichtung, mit der er scheinbar Stromschläge verabreicht. Er hört die Antworten (später Schreie) des Lernenden per Lautsprecher und antwortet mit einem Mikrofon.
Start des Experimentes: Der Versuchsteilnehmer nennt jeweils ein Wort, der „Lernende“ gibt Antwort. Ist die Antwort richtig, bekommt er nur die Rückmeldung „correct“ und es folgt das nächste Wort. Ist die Antwort falsch, kommt die Rückmeldung „Wrong answer. Right answer is … “. Zusätzlich muss der „teacher“ dem „learner“ einen Stromschlag verabreichen. Scheinbar stieg mit jeder falschen Antwort die Spannung von zunächst 15 Volt bis 450 Volt am Schluss in Schritten von jeweils 15 Volt.
Verhalten des Lernenden: Tatsächlich bekam der „Lernende“, ein Schauspieler, natürlich keine Stromschläge. Er spielte seine Rolle aber gut, äußerte Schmerzensschreie (die auch durch die Wand hörbar waren), bettelte irgendwann ihn freizulassen, klopfte an die Wand, verweigerte die Antworten ab einen gewissen Zeitpunkt, stöhnte dann nur noch und blieb irgendwann völlig reaktionslos, gab keine Antworten mehr und zeigte auch keine Reaktion mehr auf Stromschläge.
Verhalten der Versuchsleiters: Der Versuchsleiter versuchte die Versuchsteilnehmer zum Gehorsam zu bringen, damit diese möglichst lange mit dem Experiment fortfuhren. Dazu verwendete er ziemlich platte Aussagen, die er immer wiederholte, wie „Please continue teacher.“, „The experiment requires you to continue. Please continue.“, „Once we’ve started we cannot stop.“ oder „I’m responsible for anything that happens here.“
Ergebnisse der Experimente: Von den 40 Versuchsteilnehmern im ersten Experiment verweigerte kein einziger die Teilnahme von Beginn an. Die meisten Versuchsteilnehmer zeigten im Verlauf eindeutige Stresssignale, fingen an, manisch zu lachen, wollten mehrmals aufstehen und abbrechen, diskutierten mit dem Versuchsleiter, wollten nachsehen, ob es dem anderen Teilnehmer (learner) gut ginge, nachdem dieser nicht mehr reagierte. Dennoch fuhren sie immer weiter fort, nachdem der Versuchsleiter sie dazu aufforderte. Erst ab 300 Volt verweigerten einige der Teilnehmer das Fortfahren, 26 Personen (von 40) gingen komplett bis zur höchsten Stufe (450 Volt). 65 Prozent der Teilnehmer waren also letztendlich bereit, jemand anderem schwer zu schädigen, ggf. sogar lebensgefährlich, wenn es eine autoritäre Person von ihnen verlangte.
In der Folge zeigten weitere Experimente:
Das Gehorsam schwindet, wenn der autoritäre Versuchsleiter mit jemandem ersetzt wird, der weniger Status genießt (Milgram, 1974).
Gehorsam nimmt ebenfalls ab, wenn der Versuchsleiter weniger präsent ist, d.h. per Telefon seine Anweisungen gibt (Milgram, 1974).
Räumliche Nähe zum Lernenden den Gehorsam beeinflusst. Weniger Gehorsam, wenn die Person direkt gegenüber sichtbar sitzt (Milgram, 1974).
Gruppen aus Frauen und jungen Menschen ein ähnlich hohes Gehorsam zeigten wie die Männer aus der ersten Studie (Milgram, 1974, Burger, 2009).
In verschiedenen Ländern die Mehrheit der Teilnehmer den Versuch bis zur höchsten Stufe fortsetzt (Blass, 2012).
Auch heutzutage noch ähnlich hohe Werte an Gehorsam zu erwarten sind (Burger, 2009).
Alles in allem gibt es also eine überraschend große Bereitschaft bei Menschen, sich Autoritäten unterzuordnen. Das gilt selbst dann, wenn man davon ausgeht, anderen Menschen schweren Schaden zuzufügen.
Das Beispiel zeigt: Es gibt allen Grund, sich die Frage nach ethischen Prinzipien für die Psychologie zu stellen. Da sich diese Frage aufdrängt, haben die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und der Berufsverband Deutscher Psychologen und Psychologinnen (BDP) gemeinsame ethische Richtlinien für die psychologische Forschung erstellt. Das Gleiche gilt für die American Psychological Association (APA). Die Abbildung zeigt einen Überblick.
Folgende Gedanken sind dabei zentral.
Information und Einwilligung. Versuchsteilnehmer sollten, soweit es das Versuchsdesign zulässt, aufgeklärt werden und auf dieser Informationsgrundlage explizit in die Forschung einwilligen. Relevante Informationen sind beispielsweise Ablauf und Dauer des Versuches, das Recht jederzeit abzubrechen, welche Daten erhoben werden und wie damit umgegangen wird.
Druck und Incentivierung. Teilnehmer sollten nicht durch starken Druck von außen motiviert werden, etwa, weil sie in Abhängigkeitsverhältnissen stehen (Versuchspersonenpflicht für Studenten) oder durch übermäßige materielle Anreize (Bezahlung). Das läuft dem Gedanken der Freiwilligkeit zuwider.
Nutzen vs. Risiken und Schaden. Der wissenschaftliche Nutzen bzw. Risiken sollten in ein sinnvolles Verhältnis nicht unterschreiten. Das gilt auch für psychologische Experimente, in denen Tiere als Probanden dienen.
Umgang mit Täuschung. Manche Versuche erfordern Täuschung der Teilnehmer über die wahren Ziele, damit die Ergebnisse nicht verzerrt werden. Häufig kann man Teilnehmern vorab überhaupt nicht mitteilen, dass ein Versuch stattfindet, ohne das Verhalten massiv zu beeinträchtigen und damit die Aussagekraft des Versuches zu gefährden. Bei solchen Versuchsbedingungen ist sinnvoll, Probanden nur in Aspekten zu täuschen, die ihre Teilnahmebereitschaft bei Kenntnis vermutlich nicht stark senken würden. Zudem sollte nach dem Versuch eine Aufklärung über den tatsächlichen Ablauf und tatsächliche Ziele stattfinden.
Betreuung nach dem Versuch. Teilnehmer sollten nach einem Versuch eine angemessene Betreuung erhalten. Meist wird ein Abschlussgespräch oder eine kurze Info am Computerbildschirm mit einem Kontakt für weitere Fragen reichen.
Wie sieht es in der Forschungspraxis mit Ethik aus? Dazu der nächste Abschnitt.
Wirtschaftspsychologie: Ethik in der Forschungspraxis
Ethische Prinzipien sind schön – aber hält man diese in der Praxis auch ein? Nicht nur das oben geschilderte Experiment von Milgram verletzt nahezu sämtliche ethische Gedanken. Diese sind als Orientierung zu verstehen und können meist nicht voll eingehalten werden. Betrachtet man Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften im Bereich Wirtschaftspsychologie, dann wird kaum eine Studie den oben genannten Ansprüchen voll gerecht. Was ist der Grund? Zu groß wäre dann oft der Verlust an Aussagekraft durch Aufklärung, zu aufwändig wäre ein umfangreiches Durchführen und Dokumentieren von Einwilligungen. Forscher setzen also ethische Richtlinien in das Verhältnis mit anderen Zielen, etwa den Erkenntnisgewinn. Sie versuchen eine sinnvolle Gesamtlösung zu finden und priorisieren im Einzelfall.
Typisch – und oft erforderlich für die Aussagekraft einer Studie – sind beispielsweise getarnte Versuchssituationen, wie folgendes Beispiel zeigt.
Forschungsbeispiel: Strahan, Spencer und Zanna, 2002
Eine getarnte Versuchssituation (auch verdeckte Versuchssituation) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Teilnehmer wissen, dass ein Versuch stattfindet, sich aber mit einer vorgeschobenen Aufgabe beschäftigen. Die eigentlichen Versuchsziele bleiben dabei im Dunklen. Ein Beispiel ist eine Studie zur Beeinflussung von Verhalten mit subliminal gezeigten – also nicht bewusst wahrgenommenen – Reizen (Strahan, Spencer und Zanna, 2002).
Ablauf: Die Autoren luden Versuchsteilnehmer zu einer Marketingstudie, in der sie bestimmte Produkte probieren und bewerten sollten.
Eine Hälfte der Personen durfte während des Versuchs etwas trinken (kein Durst), die andere nicht (Durst).
Bei einer Befragung am Computer während der vorgeschobenen Produktteststudie wurden wiederum der Hälfte der Versuchspersonen aus den beiden Gruppen ohne deren Wissen durstspezifische Worte zeitlich unter der bewussten Wahrnehmungsschwelle gezeigt.
Nach dieser Befragung bekamen die Teilnehmer am Versuch alle Getränke angeboten.
Ergebnisse: Personen aus der Versuchsgruppe mit Durst, die also bereits durstig waren, tranken nach dem Versuch umso mehr, wenn sie die subliminalen Stimuli erhalten hatten. Sie tranken nahezu doppelt so viel, wie Personen mit Durst, die diese Stimuli nicht erhalten hatten.
Hätte man die Probanden vorab informiert, was die Ziele des Versuches sind und was genau passiert, wären die Ergebnisse nicht mehr aussagekräftig. Man kann davon ausgehen, dass sie ihr Trinkverhalten ändern, sobald sie das Versuchsziel kennen.
Insbesondere bei Feldversuchen, bei denen Probanden Online auf Websites, in Geschäften und Supermärkten oder am Arbeitsplatz beeinflusst werden, gibt es meist keine Information oder Einwilligung. Auch nicht danach.
Auch hierzu ein Beispiel.
Forschungsbeispiel: Areni und Kim, 1993
Unter einer vollbiotischen Versuchssituation wissen die Teilnehmer überhaupt nicht, dass sie an einem Versuch teilnehmen. Im Labor ist dies schwer umsetzbar, diese günstige Situation wird man daher vorwiegend im Feld antreffen. Die Reaktivität der Versuchsteilnehmer ist hier natürlich mit Null anzusetzen, was optimal für die Aussagekraft der Ergebnisse ist.
Ein gutes Beispiel für so eine vollbiotische Versuchssituation ist die Studie von Areni und Kim zum Einfluss von Musik auf die Preisakzeptanz bei Wein in der Gastronomie (Areni und Kim, 1993).
Ablauf: In einer Weinhandlung wurde zufallsgesteuert abwechselnd klassische Musik und Pop-Musik aus den Top-Forty gespielt. Erhoben wurde unter anderem das Kaufverhalten der Kunden.
Ergebnisse: Mit klassischer Musik wurde sowohl mehr Wein gekauft vor allem aber wesentlich teurerer Wein gekauft. Kunden gaben unter der Bedingung klassische Musik über doppelt so viel Geld aus. Offenbar aktiviert klassische Musik Bereiche im Gehirn, die mit Preiswürdigkeit und Luxus einhergehen.
Auch hier hätte eine Vorabinformation der Teilnehmer die Aussagekraft total zerstört. Man informiert die Kunden auch nicht nach dem Besuch über den Versuch, weil sie dann andere Personen beeinflussen könnten, bevor diese das Geschäft betreten. Wenn das Experiment beendet ist, sind die Kunden bereits lange weg und können nicht mehr informiert werden.
Fazit: Ethische Leitgedanken sind wichtig und bieten Orientierung. Sie sind aber nicht das Einzige was zählt. In der konkreten Forschungspraxis wägen Psychogen ethische Prinzipien und das Interesse an aussagekräftigen Ergebnissen ab.
Der letzte Abschnitt gibt Hinweise für Bücher zur weiteren Vertiefung.
Psychologie und Ethik: Literatur und Bücher
Auf der Suche nach einem Buch zu Psychologie und Ethik? Hier aktuelle Literatur-Tipps:
Wer bei Ethik und Wirtschaftspsychologie nur an Forschung denkt, hat eine sehr enge Perspektive. Kann der Wirtschaftspsychologie egal sein, was in der Praxis mit ihren Erkenntnissen passiert? Dazu das nächste Kapitel.