Ist der berühmte „Sprung ins kalte Wasser“ wirklich so förderlich? Jeder Mensch hat seine Grenzen, seine Komfortzone – doch wir können unsere Grenzen verschieben und wachsen. Mit mehr Bewegung und Sport im Leben anfangen, den Traumpartner kennenlernen, überzeugende Ergebnisse in Bildung und Beruf, Wohlstand und ein gutes soziales Netzwerk… Das hat vor allem mit einem zu tun: der Wachstumszone. Nur wer die Komfortzone verlassen kann, wächst bei diesen wichtigen Lebenszielen. Ja, bei ehrlicher Betrachtung werden viele Menschen sogar feststellen: „Alles worauf ich stolz bin in meinem Leben… das habe ich außerhalb der Komfortzone erreicht.“
Was genau ist diese „legendäre“ Zone? Wie kommen wir rein in die Wachstumszone? Der Beitrag zeigt, wie das gelingt. Er verbindet Forschungsergebnisse der Psychologie mit bewährten Tipps aus der Praxis und zeigt mit Beispielen, wie wir aus der Komfortzone herauskommen. Und die Analyse geht tiefer: Ist die bequeme Zone tatsächlich so schlecht? Welche Kritik und Weiterentwicklungen gibt es am Komfortzonenmodell?
Autor: Diplompsychologe Professor Dr. Florian Becker
Wenn wir immer in unserer Komfortzone bleiben, werden wir schwach und unsere Möglichkeiten klein. Mit jedem Tag, jedem Monat und jedem Jahr – wir werden immer fauler, schwächer, kranker, dicker und einsamer. Irgendwann sind viele Menschen 70 Jahre alt und sind 20 Jahre ihrer wachen Zeit vor dem Fernseher gesessen. Viel Potenzial ist dann nicht mehr übrig. Wer hätten sie werden können, wären sie aus der Komfortzone in die Wachstumszone gegangen? Wer hätten sie sein können für ihre Ehepartner, Kinder, Freunde, die gesamte Gesellschaft – und vor allem für sich selbst? Was hätten sie hinterlassen und schaffen können? Das dauerhafte Verharren in der Komfortzone ist die Entscheidung für den Tod, während wir noch leben.
In diesem Beitrag:
Warum die Komfortzone verlassen?
Warum sollte man seine Komfortzone verlassen? Kinder haben etwas, das vielen Erwachsenen verloren geht. Sie wollen wachsen, ihren Aktionsradius vergrößern, setzen sich unangenehmen Situationen aus. Sie fallen hin, stehen wieder auf, gehen an ihre Grenzen. Sie verlassen ihre Komfortzone. So lernen sie und entwickeln sich schnell. Kinder gewinnen so jeden Tag: Kompetenzen, Wissen, Selbstvertrauen, Möglichkeiten. Mit dem Alter geht dieser Spirit oft immer mehr verloren. Die Bewegungsfreude nimmt ab, der Sitzsack und die Couch werden zum bevorzugten Aufenthaltsort. Smartphones, Computer und Fernseher betäuben die Sinne und verhindern das eigenständige Denken… Viele Menschen hören irgendwann auf, aus der Komfortzone zu gehen. Als Konsequenz daraus hat ein durchschnittlicher 60-jähriger US-Amerikaner 15 Jahre seiner wachen Lebenszeit vor dem Fernseher verbracht und befasst sich täglich viele Stunden passiv mit Social-Media. In Deutschland sieht es nicht besser aus. Diese Menschen haben aufgehört zu leben, sich in eine „komfortable“ Ersatzrealität zurückgezogen, eine toxische Komfortzone. Am Ende sterben sie auch physisch. Sie haben ihr inneres Kind verloren, versäumt auf ihre körperliche, geistige und spirituelle Gesundheit zu achten. Sie haben kein soziales Netzwerk aufgebaut, sich nicht um eine gesunde Familie gekümmert, nichts geschaffen. Sie gehen – und waren doch nie da.
Woran merkst Du, dass Du zu viel in der Komfortzone bleibst? (Humorvoll formuliert – doch ernster Hintergrund.)
- Deine Aufgaben fallen Dir alle sehr leicht, langweilen Dich sogar. Du fühlst Dich unterfordert, bist oft mit den Gedanken ganz wo anders. Bei Deiner Arbeit lernst Du kaum mehr Neues.
- Es ist Monate hier, dass Du ein Fachbuch oder Literatur in der Hand hattest. Die Nahrung für Dein Gehirn beschränkt sich auf geistiges Fastfood wie Talkshows, Nachrichten und Social Media Inhalte. Permanent hast Du das Smartphone in der Hand.
- Die Anzahl Deiner Freunde und hochwertigen Kontakte im Leben wird immer weniger. Du guckst Serien an, um das Gefühl zu erzeugen, dass vertraute Menschen um Dich sind.
- Erfolgserlebnisse in Beruf, Schule oder Studium sind lange her. Es gibt in Deinem „echten“ Leben nichts, woran Du leidenschaftlich arbeitest, worauf Du stolz bist. Vielleicht baust Du stattdessen virtuell in einem Computerspiel eine Stadt auf oder entwickelst einen Avatar weiter. Mitunter ist Dir selbst das zu anstrengend.
- Deine Rolle ist die eines Konsumenten, nicht die eines Produzenten. Andere sind da für Deine Bedürfnisse. Du gibst kaum zurück, weil es zu anstrengend ist – Einladungen aussprechen, etwas schaffen… Ideen, Kunst, ein Buch, ein gutes Gastmahl… das siehst Du nicht als Deine Rolle. Du hast keinen Output für andere und die Gesellschaft.
- Du hast nicht in produktive Assets investiert, die „für Dich arbeiten“. Gewinnentnahmen, Kapitalerträge, Mieteinnahmen und Veräußerungsgewinne sind für Dich Fremdwörter. Du kennst nur den Dispo, willst „easy credit“ statt „hard work“. Wenn Du einmal Geld hast, gibst Du es sofort für einen Genuss aus, etwa neue Elektronik oder einen Urlaub. Für Deine Versorgung und die Lösung Deiner Probleme baust Du auf andere: Deine Eltern, den Staat, die Politik, das Gesundheitssystem, die „Gemeinschaft“.
- Dein Körper wird zunehmend ein „Anti-Körper“, gezeichnet durch übermäßige Ernährung mit prozessierten Lebensmitteln, zu viel Fett, Salz, Industrie-Fleisch und jede Menge Zucker. Auch die mangelnde Bewegung führt Dich sicher an Typ-2-Diabetes heran.
- Eine positive Vision Deiner Zukunft hast Du ebenso wenig, wie geeignete Strategien und Gewohnheiten diese zu erreichen. Du lebst nach Werten, die Dir nicht bewusst sind. Würdest Du Dir diese „Götter“, denen Du dienst, bewusst machen, dann wäre das für Dich eine traumatische Erfahrung. Deshalb schaust Du weg, lenkst Dich von Dir selbst ab.
Diese Punkte machen deutlich, dass wir in vielen Lebensbereichen einen hohen Preis zahlen, wenn wir die Komfortzone nicht verlassen: Gesundheit, Glück, soziale Beziehungen, Wohlstand, Bildung und Wissen, Karriere und Sinnerleben. Wir verzichten so darauf zu leben.
Jeder Mensch hat Grenzen. Aber wir können unsere Grenzen verschieben, unsere Möglichkeiten ausdehnen: im Denken, im Handeln, unsere Ressourcen und unser Netzwerk. Doch viele Menschen dehnen ihre Grenzen nicht aus, sie lassen zu, dass ihre Möglichkeiten schrumpfen, sie werden jeden Tag kleiner. Wie können wir dieses Schicksal vermeiden? Was bewahrt uns vor so einer Minimalexistenz? Wie gelingt es manchen Menschen, immer wieder aus ihrer Komfortzone herauszugehen und wirklich der Mensch zu werden, der sie sein können?
Komfortzone verlassen: Beispiel
Die eine Person bliebt in ihrer Komfortzone – die andere Person verlässt sie konsequent. Nach vielen Jahren treten beide gegeneinander an. Es geht um Leben und Tod – und um nahezu grenzenlose Macht. Wer überlebt die Konfrontation? Darum geht es in diesem Beispiel zur Komfortzone.
Der nächste Abschnitt stellt das Modell der Komfortzone im Detail vor.
Komfortzone als Modell
Was ist mit Komfortzone gemeint? Das Modell der Komfortzone stammt ursprünglich aus der Lernpsychologie und geht auf den russischen Psychologen Lev Vygotsky (1896-1934) zurück (Yasnitsky, 2018). Das klassische Modell unterscheidet eine innere Zone, in der jemand Aufgaben ohne Hilfe erledigen kann, eine mittlere Zone, in der jemand Aufgaben nur mit Unterstützung lernt und eine äußere Zone mit Aufgaben, die zu lernen für die Person aktuell auch mit Anleitung nicht möglich ist. Mittlerweile hat sich das Konzept stark weiterentwickelt und wurde auf verschiedene Bereiche ausgedehnt (Luckner und Nadler, 1997; Brown, 2008). Auch in der Praxis sowie der Selbsthilfe- und Coaching-Literatur hat sich das Konzept weiterentwickelt. Mitunter hat man fröhlich weitere Zonen ergänzt oder neue Bezeichnungen für die Zonen eingeführt. Die Abbildung zeigt ein modernes Modell, das dem heutigen Stand entspricht.
Dabei unterscheidet man sinnvollerweise drei Zonen im Zonenmodell:
- Komfortzone. Hier ist das Verhalten von Gewohnheiten, Routine, Bequemlichkeit, sozialer Anerkennung und Angstfreiheit geprägt. Man kennt die Abläufe, arbeitet routiniert und sauber, man fühlt sich sicher. Allerdings wächst man nicht, lernt kaum dazu und entwickelt sich wenig weiter.
- Wachstumszone. Diese Zone tritt ein, wenn jemand die Komfortzone verlässt, in einen Bereich geht, der anspruchsvoll ist aber noch den Kompetenzen entspricht. Die Person bricht dabei kontrolliert Gewohnheiten und Routine auf. Sie beginnt unbequeme Aktivitäten, die ihr nutzen. Sie fängt an, Dinge zu tun, die Menschen in ihrem Umfeld möglicherweise ablehnen und stellt sich ihren Ängsten. Da es ein kontrolliertes, schrittweises Verlassen der Komfortzone ist, wird die Person meistens Erfolg bei ihren Aktivitäten haben, dabei lernen und sich schneller entwickeln. Die Handlungen innerhalb der Wachstumszone wandern dadurch in die Komfortzone. In der Folge vergrößert sich ihre Komfortzone, dehnt sich aus.
- Panikzone. Die Panikzone tritt ein, wenn jemand über die Wachstumszone hinausgeht. Situationen und Tätigkeiten übersteigen dann die Kompetenzen einer Person deutlich. Ein Erfolg ist wenig wahrscheinlich. Das „kalte Wasser“, in das man gesprungen ist (oder geworfen wurde) ist zu kalt. Man droht zu „ertrinken“, ist zu weit weg von der „rettenden“ Komfortzone. Vielleicht ist es auch gar kein kaltes Wasser mehr, sondern eine hart gefrorene Eisplatte, auf der man sich sehr weh tut. Die Panikzone ist kein guter Platz zu sein: Informationen, die man nicht verarbeiten kann, Anforderungen, auf die man keine Antworten hat, Handlungen, die man nicht ausführen kann. Überforderung und Misserfolg, vielleicht sogar traumatische Erfahrungen, führen dann möglicherweise zu noch mehr Angst, Hilflosigkeitsgefühlen und Misstrauen. Viele verharren als Folge davon noch stärker in ihrer Komfortzone. Statt Lernen und Wachstum ist dann ein Vermeidungsverhalten die Konsequenz. Sie fliehen vor jeder Herausforderung und wachsen nie wieder.
Relevant für das Komfortzonenmodell ist auch, dass es eine Barriere zwischen der Komfortzone und der Wachstumszone gibt. Etwas, was ein „die Komfortzone verlassen“ verhindert. Es gibt einen psychologischen Preis, der zu zahlen ist. Viele reden hier von Angst, manche rufen sogar eine „Angstzone“ aus. Das ist so nicht generell zutreffend, denn es gibt viele andere Barrieren, die uns in der Komfortzone festhalten: etwa „Faulheit“, die Rücksicht auf andere Menschen oder eine tiefe Ablehnung von Veränderung. Dazu später mehr.
Was ist die Komfortzone? Bedeutungen
Bei der Recherche zu einer einheitlichen Bedeutung der Komfortzone tritt schnell Ernüchterung ein (vgl. Brown, 2008). Das Konzept ist weit von einer wissenschaftlich sauberen Definition entfernt. Zentrale Fragen sind bislang nur sehr vage beantwortet: Was genau ist die Komfortzone? Wo genau ist sie zu Ende? Wann genau fängt sie an? Ist die Komfortzone je nach konkreter Aufgabe bzw. Herausforderung ganz verschieden? Gibt es eine Komfortzone für jeden Menschen? Spielt vielleicht sogar der aktuelle Zustand der Person eine Rolle? Ist das Verweilen in der Komfortzone wirklich schlecht – oder hat die Komfortzone sehr wichtige Funktionen und Vorteile?
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Die Definitionsversuche, Ideen und Beschreibungen aus dem populärwissenschaftlichen Feld helfen wenig weiter. Die zugewiesenen Bedeutungen der Komfortzone bleiben auf einem recht schlichten Niveau nach dem Motto:
- „Komfortzone ist das Gewohnte. Wachstumszone ist das Unbekannte und Neue!“
- „Komfortzone, ist wenn du keine Angst hast! Angst ist gut, sie zeigt dir, dass du auf dem richtigen Weg bist. Was du willst, ist auf der anderen Seite. Du musst dich der Angst stellen!“
- „Die Komfortzone ist der Bereich, in dem dich deine Abwehrmechanismen halten. In die Wachstumszone kommst du, wenn deine Abwehrmechanismen weggerissen werden. Setz dich dem aus!“
- „Du bist deine Komfortzone. Die Wachstumszone ist das, was du noch nicht bist, was du einmal sein könntest!“
Fazit: Mit dem Begriff Komfortzone verbinden unterschiedliche Personen sehr unterschiedliche Bedeutungen. Zudem ist die Komfortzone ziemlich unisono als etwas Schlechtes definiert, aus dem man „heraus“ müsse. Offenbar ist das Thema auch von steigender Bedeutung in modernen Überfluss-Gesellschaften, wie der Schaukasten zeigt.
- Du hast nichts zu essen? – Hol die Tiefkühlpizza aus der Truhe oder rufe den Lieferdienst mit der App am Smartphone.
- Du hast keine Freunde und fühlst dich einsam? – Komm, mach den Fernseher an und streame deine Lieblingsserie.
- Du hast dir keine Bleibe erarbeitet? – Hol dir eine Sozialwohnung.
- Du tust dir schwer, Kontakt zum anderen Geschlecht zu finden? – Es gibt super Onlineangebote dafür.
- Du fühlst, dass du nicht vorankommst im Leben und wenig Erfolg hast? – Dann bau dir eine virtuelle Identität in einem Onlinegame auf und entwickle dort einen Avatar.
Normalerweise müsste es in der Komfortzone sehr langweilig sein. Ist es aber nicht mehr. Umfassende Angebote zur Ablenkung, Betäubung des Antriebs und künstlichen Erregung und Unterhaltung stehen bereit: Filmserien, Computerspiele, soziale Medien, Rauschmittel und Medikamente… Dieses umfassende Angebot fördert zusätzlich das Verharren in der Komfortzone, eine „Verhausschweinung“ der modernen Menschen.
Wie kommen wir von der Alltagsbedeutung und Spekulationen zu einer wissenschaftlich belastbaren Definition der Komfortzone?
Merkmale der Komfortzone
Um zu einer belastbaren Definition zu kommen, ist ein Blick auf die Eigenschaften und Merkmale der Komfortzone wichtig. Die folgende Abbildung zeigt eine Übersicht.
Das sind die konkreten Merkmale der Komfortzone:
- Spektrum an Verhaltensweisen. Die Komfortzone ist letztlich definiert als ein Spektrum an Verhaltensweisen, bei dem man sich nicht oder kaum entwickelt. Als etwas das vor einer „Wachstumszone“ kommt.
- Individuell und spezifisch. Verhaltensweisen, bei denen die eine Person sich nicht mehr entwickelt, können eine andere Person schon überfordern. Daher hat jede Person ihre eigene individuelle Komfortzone. Ein Merkmal der Komfortzone ist also Individualität. Zudem ist die Komfortzone sehr spezifisch, je nach Verhalten um das es geht. So kann jemand beim Autofahren ggf. sehr kompetent sein und eine sehr große Komfortzone haben, in Mathematik allerdings eine sehr kleine und schon mit vergleichsweise einfachen Rechenaufgaben überfordert sein.
- Kann wachsen. Ein weiteres Merkmal der Komfortzone: Sie kann wachsen. Mit zunehmender Kompetenz und Erfahrung, wachsenden psychologischen Ressourcen wie etwa Selbstbewusstsein, finanziellen und sozialen Ressourcen wird das Spektrum an Verhaltensweisen in der Komfortzone größer. Das Konzept der Ressourcenaktivierung aus der Psychotherapie (vgl. Gassmann und Grawe, 2006) hat hier einen klaren Bezug. Je mehr (psychologische) Ressourcen (Motivation, Disziplin, Fähigkeiten, positive Emotionen, Optimismus…) ich habe, desto größer ist meine Komfortzone.
- Verlassen begrenzt durch Barrieren. Ein Verlassen der Komfortzone ist gekennzeichnet durch psychologische Barrieren: Ich möchte die gut aussehende Frau kennenlernen, habe aber Angst sie anzusprechen. Ich würde gerne mehr Sport machen, bin aber zu faul mich aufzuraffen. Ich würde mich gerne auf die Führungsposition bewerben, habe aber Sorge, dass ich mir Mittbewerberinnen zum Feind mache.
- Risiko von Langeweile. Passivität und Untätigkeit, Langeweile und Unterforderung können Stress erzeugen. Das wäre auch nicht komfortabel. Unter einer stumpfen Routine ohne jeden Anspruch würden die meisten Menschen leiden, normalerweise in die Wachstumszone streben. Unter natürlichen Bedingungen wäre das auch so. Mittlerweile gibt es allerdings zahlreiche Angebote, die künstliche Erregung, Ablenkung und Betäubung liefern. Mit Smartphone, Netflix und Computerspielen lässt es sich dann gut in der Komfortzone aushalten. Die Langeweile ist weg – aber es gibt dennoch kein Wachstum.
- Kurzfristig angenehm. Die Bezeichnung „komfort“ weist schon auf eine Eigenschaft der Komfortzone hin. In der Komfortzone ist es angenehm. So lange ich dort bleibe, spare ich mir den Preis zu zahlen, den ein Verlassen hat. Ich muss nichts verändern, kann bequem bleiben, spare mir sozialen Unfrieden und Gefühle von Angst und großer Aufregung. Alles bleibt erstmal sicher, kontrolliert und gewohnt. Kurzfristig ist es natürlich angenehm die „Traumfrau“ nicht anzusprechen.
- Langfristige Nachteile. Das Verlassen der Komfortzone hat einen Preis. Dieser Preis ist allerdings oft ein Investment. Ein Investment in Lernen, Entwicklung und ein erfolgreicheres und glücklicheres Leben. Wenn ich nicht bereit bin, einen Preis in der Gegenwart für eine bessere Zukunft zu zahlen, dann hat das langfristig gravierende Nachteile. Ich muss dann damit leben, dass ich weniger gesund, weniger beruflich erfolgreich, weniger sozial erfüllt (Partnerschaft, Freunde, Familie), weniger kompetent und langfristig weniger glücklich bin als ich sein könnte. Langfristig ist es dann ärgerlich, wenn jemand anderes unsere „Traumfrau“ angesprochen und für sich gewonnen hat.
Die genannten Merkmale klären schon zunehmend die gestellte Frage: Was ist eine Komfortzone? Sie führen zu einer belastbaren Definition.
Komfortzone: Definition
Was ist Komfortzone? Aus der vorangehenden Diskussion können wir Komfortzone definieren als Maximieren des kurzfristigen Wohlbefindens. Sie ist die Weigerung, jetzt in der Gegenwart etwas zu opfern, um für die Zukunft mehr zu gewinnen. Hier die Definition:
Zur Definition der Komfortzone gehören also unambitionierte Ziele, gewohnte Verhaltensweisen, und Kontexte, die uns nicht fördern. Daher die Abgrenzung zur Wachstumszone, die uns fördert und in der wir wachsen und uns entwickeln. Oft geht das Maximieren kurzfristigen Wohlbefindens auf Kosten langfristiger Vorteile, auf Kosten der eigenen Entwicklung. Die so definierte Komfortzone handelt davon, dass Menschen nicht bereit sind, kleine Opfer in ihrer Gegenwart zu bringen für große Gewinne in der Zukunft. Ihr Motto: „Ich will es jetzt bequem haben – auch wenn das Nachteile in der Zukunft bedeutet, auch wenn ich mich dadurch nicht entwickle.“ Das Gegenteil der Komfortzone wäre dann das Motto: „Ich investiere jetzt, um später noch mehr zu bekommen.“ Konfuzius hat etwas Interessantes dazu gesagt: „Der reiche Mann denkt an die Zukunft, der arme an die Gegenwart.“ Damit beschreibt er die mentale Grundhaltung und die Auswirkungen einer reinen Orientierung an der angenehmen Gegenwart. Konfuzius hat Reichtum und Armut hier sehr weit gefasst, da er eine materielle Orientierung ablehnte. Es geht um Reichtum an Wissen, Möglichkeiten, Erfahrungen, Kraft, innerer Ruhe, Leidenschaft, Werten, Kultur, Beziehungen, Geist, Erfolg, Gesundheit…
Wir opfern auf dem Altar der Komfortzone also oft unser langfristiges Glück für kurzfristige Bequemlichkeit. Wenn wir zu viel in der Komfortzone bleiben, kann das unsere Entwicklung stark behindern. Da Positive Psychologie sich mit der Ausschöpfung menschlichen Wachstumspotenzials befasst, ist die Komfortzone von zentralem Interesse.
Diese Definition von Komfortzone weist auch auf einen interessanten psychologischen Forschungsbereich hin: die Selbstdisziplin. Sie beschreibt, wie sehr ein Mensch sich regulieren kann, um seine langfristigen Ziele zu erreichen. Das beinhaltet, Aufmerksamkeit, Denken, Emotionen, Motivation und letztlich das Verhalten. Es geht um Disziplin, Durchhaltewillen und Willenskraft. Selbstdisziplin ist das, was einen von zwei körperlich „gleichen“ Menschen auf einen 7000er Berg steigen lässt – und den anderen schon vor dem Basiscamp umdrehen lässt. Wir brauchen Selbstdisziplin, um an die Zukunft zu denken, eine gute Zukunft zu schaffen. Hohe Selbstdisziplin lässt eine Studentin mit mittlerer Intelligenz ihr Studium mit Top-Abschluss durchziehen und geringe Selbstdisziplin lässt ggf. eine andere Studentin mit hoher Intelligenz im Studium scheitern, Netflix-süchtig und zur Raucherin werden. Hohe Selbstdisziplin hängt zusammen mit Arbeitsmotivation, pünktlichem Beginnen und kontinuierlichem Umsetzen von Aufgaben (Steel, 2007). Zudem geht sie einher mit guten sozialen Beziehungen, Schulerfolg und vernünftigem Umgang mit Geld. Geringe Selbstkontrolle korreliert dagegen mit übermäßigem Essen, Alkohol- und Drogenkonsum, verbaler und körperlicher Gewalt sowie riskantem Sexualverhalten (Tice und Bratslavsky, 2000).
Doch es muss nicht nur Disziplin sein, die uns aus der Komfortzone holt. Auch außerhalb der Komfortzone können sich Menschen wohlfühlen. Wir können die Wachstumszone mit der Komfortzone verschmelzen lassen. Ein guter Bezugspunkt für diesen Gedanken ist das Flow-Modell der Psychologie (Csikszentmihalyi, 1975). Die Flow-Theorie geht davon aus, dass es einen optimalen Zustand bei Tätigkeiten gibt, bei dem die Anforderungen einer Tätigkeit den Fähigkeiten entsprechen. Hier kann ein sogenannter Flow-Zustand entstehen, der optimal motiviert. Wir sind dann in der Wachstumszone, lernen optimal, gehen voll in unserer Tätigkeit auf und wir fühlen uns gut dabei.
Übersteigen die Anforderungen allerdings unsere Fähigkeiten, dann entsteht Stress durch Überforderung. (Dieser Aspekt findet sich als „Panikzone“ im Komfortzonenmodell.) Unterfordert eine Aufgabe, dann entsteht laut Flow-Modell ebenfalls Stress. Die Ähnlichkeiten zum Komfortzonenmodell sind deutlich. Allerdings thematisiert die Flow-Theorie besser den Zustand der Unterforderung und Langeweile, den auch viele Menschen vermeiden wollen.
Mangelnde Selbstdisziplin und kurzfristiges Denken sind daher wesentliche Facetten bei der Definition von Komfortzone. Allerdings ist Komfortzone breiter definiert. Neben der mangelnden Disziplin und Faulheit gibt es weitere Kräfte und Barrieren, die uns in dieser langfristig toxischen Zone „festhalten“.
Was hält uns in der Komfortzone fest?
Aus der Komfortzone herauskommen. Das ist offenbar für viele Menschen leichter gesagt als getan. Doch was hält uns dort gefangen? Es gibt Barrieren. Eine gute Struktur der Ursachen, warum jemand in der Komfortzone bleibt, findet sich entlang der großen fünf Persönlichkeitsmerkmale. Das hält uns in der Komfortzone fest:
- Angst. Angst ist ein sehr wichtiges Motiv, sich keinen neuen Situationen auszusetzen. Es kann die Angst sein, von anderen abgelehnt und zurückgewiesen zu werden oder zu versagen. Entsprechend vermeidet eine ängstliche Person herausfordernde Situationen, an denen sie wachsen könnte. Hier spielt insbesondere der Persönlichkeitsfaktor „Neurotizismus“ eine Rolle. Dieser beschreibt, wie emotional sensibel Menschen auf Reize reagieren. Wer hohen Neurotizismus hat, ist eher unsicher und wenig selbstbewusst, bleibt in seiner Komfortzone.
- Ablehnung von Veränderung. Manche Menschen sind wenig offen für Neues, sie hassen Veränderung, hängen am geliebten Gewohnten. Deshalb bleiben sie in ihrer Komfortzone, denn Wachstum, Entwicklung, Lernen bedeuten Veränderung – das findet meist außerhalb der Komfortzone statt. Die größte Angst ist für viele die Änderung der eigenen Person. Das erzeugt Unsicherheit, stellt die Identität in Frage. Hier ist das Persönlichkeitsmerkmal „Offenheit für Neues“ von großer Bedeutung.
- Faulheit. Ein neues Hobby beginnen, Sport anfangen, neue Menschen kennenlernen, eine private oder berufliche Veränderung – das ist mit Unannehmlichkeiten verbunden. Es ist anstrengend. Personen mit geringer Leistungsorientierung und Menschen, die sich eine „Schonhaltung“ angewohnt haben, bleiben deshalb oft in der Komfortzone. Weil es einfach ist. Weil es (zumindest kurzfristig) bequem ist. Hier ist das Persönlichkeitsmerkmal „Gewissenhaftigkeit“ relevant, ein Faktor auf dem auch Leistungsorientierung liegt. Wer wenig gewissenhaft ist, prokrastiniert eher (Steel, 2007).
- Rücksicht auf Andere. Ja, auch die übermäßige und falsch verstandene Rücksicht auf Andere ist oft eine Barriere für die eigene Entwicklung. Sie verhindert, dass wir aus der Komfortzone gehen. Das können aktuell im Umfeld vorhandene Personen sein. Der Partner, der Probleme damit hat, wenn seine Frau erfolgreicher als er ist. Freunde, die nicht damit klarkommen, wenn jemand aus ihrem Umfeld sie outperformt.
Vielleicht ist es eine ganze Gesellschaft und Kultur, die Erfolg innerlich ablehnt – zumindest bei machen Personen, die zum Beispiel sagt: „Frauen dürfen nicht studieren!“ Finanziell und unternehmerisch erfolgreiche Personen schildern oft, wie sie ihren gesamten Freundeskreis verloren haben. Bei anderen werden die Autos demoliert und die Wohnungen angegriffen, weil sie etwas teurer sind. Ein Beispiel für diese in Deutschland verwurzelte Ablehnung von Erfolg ist die Aussage der Letzten Generation „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten!“ und entsprechende Angriffe auf vermeintlich „reiche“ Personen.
Oft ist diese limitierende Rücksicht auf das soziale Umfeld auch tief verinnerlicht, in Form von unbewussten Glaubenssätzen aus der Herkunftsfamilie. Das trifft vor allem Menschen, die aus Familien kommen, die Bildung ablehnen, erfolgreiche und wohlhabende Personen anfeinden, klischeehafte Rollenerwartungen transportieren („die Tochter“, „die Ehefrau“, usw.). Wer unbewusst Glaubenssätze in sich trägt wie „Erfolgreiche Menschen sind schlecht, sie werden abgelehnt, sie haben anderen etwas weggenommen!“ oder „Du bist nicht liebenswert. Andere werden dich ablehnen.“, der steht sich oft selbst im Weg. Er scheitert immer wieder aus für ihn „unerfindlichen Gründen“.
Das Persönlichkeitsmerkmal „Verträglichkeit“ beschreibt, wie stark wir auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht nehmen, wie wichtig es für uns ist, gute Beziehungen um „jeden Preis“ aufrecht zu erhalten. Von anderen gemocht werden, dazugehören – auch das ist eine starke psychologische Kraft, die Menschen in der Komfortzone zurückhalten kann. Viele bleiben dann lieber „klein“, ziehen den Kopf ein, wachsen nicht – damit andere mit ihnen zufrieden sind. - Introversion. Auch das Persönlichkeitsmerkmal „Extraversion“ mit seinen Polen introvertiert versus extrovertiert spielt eine Rolle beim Verharren in der Komfortzone. Introvertierte Personen mögen ungerne im Mittelpunkt stehen, sie vermeiden Aufmerksamkeit anderer, verhalten sich eher sozial zurückgezogen. Ihre Tendenz, nicht auf andere zugehen zu wollen, hält sie in ihrer Komfortzone fest: Es fällt ihnen schwer, proaktiv Menschen anzusprechen für Karriere, Wissen und Lernen, gemeinsame Projekte, Partnerschaft und Beziehungen. Sie bauen kein soziales Netzwerk aus starken Menschen auf und wachsen selbst langsamer.
Die Ursachen, warum jemand nicht aus seiner Komfortzone geht, sind also oft auf die hier genannten Aspekte zurückzuführen. Entweder auf einen einzelnen davon, oft auch auf eine ganze Kombination. Menschen sind verschieden. Deshalb können auch die Ursachen, warum jemand in der Komfortzone verweilt, unterschiedlich sein.
Ein Grund, warum viele Menschen immer in ihrer Komfortzone verweilen, sich selbst langfristig schaden, ist: Wir unterschätzen die Macht schleichender Entwicklungen im Leben. Wir nehmen sie zu wenig wahr. Das zeigt der Schaukasten.
Diese Geschichte, die offenbar auf Experimentalberichte deutscher Psychologen vor über hundert Jahren zurückgeht, beschreibt, warum ihre Komfortzone für viele Menschen zur Falle wird. Jeden Tag ein paar Stunden Serien gucken, statt etwas zu lernen oder Freunde zu treffen… Das macht scheinbar nichts. Ein Gläschen Wein zu viel… das schadet auf den ersten Blick noch nicht. Jeden Arbeitstag ein paar Euro für einen Coffee-to-go, oder zwei Prozent Zinsen im Monat auf den Dispo… tun offenbar nicht weh. Ein paar Monate kein Buch lesen? Das fällt nicht unangenehm auf. Und nur weil ich aufhöre Sport zu betreiben und mich ungut ernähre, werde ich auch nicht sofort dick. Diese Menschen sagen sich Dinge wie „Hauptsache es schmeckt!“, „Man soll sich was gönnen!“ und „Ein bisschen schadet nicht!“. Und sie schauen weg.
Das Überraschende an dieser Geschichte mit dem gekochten Frosch: Sie stimmt nicht. Ein gesunder Frosch verlässt das warme Wasser, sobald es ihm unangenehm wird. Doch im gewissen Sinne sind Frösche hier leider „intelligenter“ als wir Menschen.
Menschen unterschätzen die Macht langsamer Entwicklungen im Leben. Das gilt sowohl für positive als auch für negative Entwicklungen. Die scheinbaren Kleinigkeiten des Lebens summieren sich gewaltig auf – und irgendwann kommt die dicke Rechnung. Dann schauen wir zurück und sind 15 Jahre unseres Lebens vor dem Fernseher „gesessen“. Oder wir haben den Fernseher verbannt und unsere Träume gelebt.
Wir wissen jetzt, was die Komfortzone ist, haben sie definiert und kennen die Kräfte, die uns dort „gefangen“ halten. So weit so gut. Nur: Wie kommen wir raus aus diesem Gefängnis? Komfortzone verlassen – wie funktioniert das? Zuvor ein paar ketzerische Gedanken.
Vorteile der Komfortzone
Eine ungewohnte Perspektive: Hat die Komfortzone auch Vorteile? Viele Menschen sehen sie als etwas Negatives, Verwerfliches. Zahlreiche Trainer, Coaches und Autoren aus der Selbsthilfe-Literatur bestärken diesen negativen Blickwinkel. Ist die Komfortzone tatsächlich so schlecht? Warum gibt es sie dann, haben sich Menschen so darauf ausgerichtet? Die Diskussion in diesem Abschnitt geht tiefer, kritischer, zeigt dass es gar nicht auf das bloße „Verlassen“ ankommt. Es gibt Vorteile der Komfortzone, Gründe warum wir oft innerhalb unserer Komfortzone handeln sollten.
Komfortzone ist oft gut. In der Literatur und der Praxis schimpft „jeder“ auf die Komfortzone, es ist ein einseitiges und unreflektiertes „Bashing“. Sie hat keine Fürsprecher und ist fast unisono als etwas Schlechtes dargestellt, das man zu verlassen hat. Das ist so extrem nicht richtig.
Innerhalb unserer Komfortzone handeln wir effektiv, schnell und fehlerfrei. Wir können sicher unsere Ziele und gute Ergebnisse erreichen. Wenn uns beispielsweise ein Arzt operiert oder ein Pilot fliegt: Dann ist es von höchstem Interesse für uns, dass er innerhalb seiner Komfortzone handelt. Unsere Komfortzone hilft uns auch zu regenerieren und zu reflektieren. Mit einem selbstsicheren Auftreten und zuverlässigem Handeln bauen wir Vertrauen und eine gute Reputation auf. Andere Menschen vertrauen uns. Und wir schützen uns selbst vor zu großen Risiken. Denken wir zum Beispiel an einen Soldaten, der im Kriegseinsatz einfach komplett aus seiner Komfortzone herausgeht, sich extremen Risiken aussetzt, für die er in keiner Weise ausgebildet ist. Vielleicht lernt dieser Soldat viel dazu. Wahrscheinlich ist er jedoch einfach tot oder lebenslang schwer geschädigt.
Fazit: Unsere Komfortzone hat durchaus Vorteile und sie sollte möglichst groß sein. Bei Handlungen mit großen Risiken sollten wir in der Komfortzone bleiben. Wenn wir unsere Komfortzone weise einsetzen, dann nutzen wir sie, um perfekt zu performen, zu regenerieren und neu Gelerntes zu verarbeiten.
Gezielt wachsen, statt „naiv“ verlassen. Die meisten Menschen bleiben viel zu viel in ihrer Komfortzone. Andere konzentrieren sich nahezu ausschließlich darauf, ihre Komfortzone zu verlassen – egal in welcher Richtung. Sie springen in kaltes Wasser, holen im Sport das Letzte aus sich heraus und arbeiten an einem Projekt bis zum Umfallen. Das trägt bestenfalls zu einem ungerichteten Wachstum bei, häufig schaden sich diese Personen sogar. Sie schaden ihrem Körper durch Überanstrengung, machen Fehler durch Überarbeitung und riskieren soziale Beziehungen, indem sie als ausgebrannter und überarbeiteter „Freak“ auftreten. Durch den Dauerstress sind sie nicht mehr in der Lage, die neuen Erfahrungen zu verarbeiten und zu lernen. Sie erodieren ihre Erfolgsbasis, vergessen zu regenerieren.
Das Ziel ist daher unsere Komfortzone kontrolliert auszudehnen, nicht einfach naiv zu verlassen. Jedes Projekt, jede Handlung, die wir starten, „besitzt“ uns, saugt uns im gewissen Sinne auch aus. Wir sollten daher gut überlegen, wo wir aus unserer Komfortzone gehen, welche Schlachten wir kämpfen – und welche nicht. Unsere Zeit ist begrenzt.
Balance gewinnt. An diesem Punkt ist klar, dass das Komfortzonenmodell, richtig angewandt, eine Gratwanderung ist. Wenn wir immer nur innerhalb der Komfortzone bleiben, dann handeln wir sicher und effektiv, können in einer bestimmten Aufgabe eine enorme Routine und Effizienz entwickeln. Aber wir entwickeln uns nicht weiter. Wenn wir dagegen zu naiv aus der Komfortzone heraustreten, dann ist es vielleicht gar kein kaltes Wasser mehr, in das wir springen, sondern eine Eisplatte, auf der wir zerschmettern.
Fazit: Es geht um die Balance von Risiken und Chancen, um intelligentes Wachstum mit Augenmaß. Es gilt zu testen, was für uns am besten passt. Vielleicht sagen wir dann: „Ich versuche jedes fünfte Mal im Restaurant etwas ganz Neues zu bestellen. Ich versuche jedes fünfte Mal am Abend jemanden zu treffen, den ich sonst eher nicht treffe. Ich versuche eine bestimmte Zeit mit den Menschen in meinem Umfeld über Dinge zur reden, die wir sonst nicht ansprechen. Ich versuche einen Tag in der Woche bei der Arbeit etwas zu tun, mich mit etwas zu befassen, das neu, herausfordernd und unbekannt ist.“
Gestörtes Gleichgewicht. Trotz aller Vorteile der Komfortzone: In unserer modernen Gesellschaft neigen die meisten Menschen dazu, viel zu viel innerhalb ihrer Komfortzone zu bleiben. Diese Tendenz ist nachvollziehbar, wenn man sich die Entstehungsgeschichte der Menschheit ansieht. Wetten auf eine ferne Zukunft, Unbekanntes, Fehler, Schwächen und Unsicherheit enden in einer natürlichen Umwelt schnell tragisch. Es gilt auf Nummer sicher zu gehen, nichts zu riskieren. Unsere Welt hat sich stark geändert – aber die Menschen kaum. Unsere Präferenz für Sicherheit, unser Unwillen einen Preis für die Zukunft zu bezahlen sind noch fest in uns verankert. Doch in modernen Gesellschaften ist es wichtig geworden, dass ein Fünftklässler heute lernt, damit er als erwachsener Mann einen akademischen, gefragten Beruf ausüben kann. Es ist essenziell, dass Kinder lernen, vernünftig mit Geld umzugehen, um später ihrer Familie ein gutes Leben finanzieren zu können. Es ist entscheidend, dass eine dreißigjährige Frau gute Gewohnheiten bei Ernährung und Bewegung aufbaut, damit sie mit 60 nicht Typ-2-Diabetes hat. Wir müssen, um hier erfolgreich zu sein, riesige Investments in die Zukunft tätigen. Bedeutet: Dieses hartnäckige Verharren in der Komfortzone, das früher hoch angepasst war, hat sich in den modernen Gesellschaften zum Fluch entwickelt. Das optimale Gleichgewicht ist gestört. Wir sind zu viel in der Komfortzone!
Fazit: „Huch, die schlimme Komfortzone ist ja doch auch gut!“ Ja, das ist sie. Wohl dosiert. Meist ist die Dosis allerdings viel zu hoch. Und das Verlassen ist zu wenig gezielt. Moderne Menschen neigen dazu, viel zu viel innerhalb der Komfortzone zu bleiben. Nach diesen „ketzerischen“ Gedanken folgen daher konkrete Tipps zum Verlassen der Komfortzone.
Komfortzone verlassen: Tipps
Viele Menschen fragen sich: „Wie kann ich meine Komfortzone verlassen?“ Raus aus der Komfortzone! Das sind die entscheidenden Tipps, um in die Wachstumszone zu kommen:
1. Ambitionierte Aufgaben wählen
Ein gefährlicher Glaubenssatz, den viele aus dem Schulsystem mitbringen, ist: „Ich muss etwas erst richtig gut können, gut darin sein, bevor ich es angehe.“ Doch wenn wir immer nur Aufgaben aussuchen, für die wir mit Sicherheit „schon gut genug“ sind, dann wachsen wir kaum mehr. Diese Aufgaben sind für uns zu klein. Wir brauchen anspruchsvolle, aber realistische Aufgaben, Aufgaben, die wir nur schaffen, wenn wir uns wirklich anstrengen. Ein Punkt, der verhindert, dass wir ambitionierte Aufgaben wählen, ist die Angst vor Fehlern. „Ich darf keine Fehler machen!“ Das haben viele Menschen als Glaubenssatz verinnerlicht. Schon in der Schule bemisst man unsere Leistung meist an Fehlern: keine Fehler, Note Eins – viele Fehler, Note Sechs. Wir leben in einer „Fehlerkultur“, in der man sich auch als Erwachsener keine Fehler „leisten kann“. Als Konsequenz sind viele Menschen enorm fehlerscheu, riskieren nichts. Das nimmt uns die Chance zu wachsen und zu lernen.
Fazit: Oft lernen wir eine Kompetenz erst richtig, indem wir es tun. Je größer die Chancen und je kleiner die Risiken bei einer Handlung sind, desto eher sollten wir aus unserer Komfortzone herauskommen, auch wenn das Ziel ambitioniert ist. So können wir mit den Herausforderungen wachsen. „Das größte Risiko ist, kein Risiko eingehen zu wollen.“ sagt man in Unternehmerkreisen.
2. Selbstwirksamkeit entwickeln
Selbstwirksamkeit ist das Vertrauen in uns selbst. Das Vertrauen, dass wir „es schaffen können“. Selbstwirksame Menschen glauben an den Erfolg, verlassen ihre Komfortzone und strengen sich sogar mehr an, wenn etwas nicht auf Anhieb gelingt. Sie können sich besser motivieren und strahlen diese Zuversicht auf andere Menschen aus. Sie suchen sich anspruchsvolle, aber realistische Aufgaben und treten damit kontrolliert in die Wachstumszone. Unsere Selbstwirksamkeit fördern wir z.B. indem wir Fähigkeiten trainieren, systematisch Erfolge sammeln und stufenweise schwierigere Aufgaben angehen und lösen. Selbstwirksamkeit entwickeln wir auch, indem wir uns mit Menschen umgeben, die uns positives und wertschätzendes Feedback geben.
3. Stufe für Stufe gehen
Weitermachen ist wichtig. Und Erfolgserlebnisse sind wichtig. Beides zusammen bekommen wir, wenn wir schrittweise vorangehen. Das funktioniert ganz einfach, wie folgende Beispiele zeigen. Es fällt uns schwer, vor Menschen zu sprechen? Dann fangen wir im Kleinen an, erzählen im Freundeskreis Witze, halten eine kurze Ansprache, wenn jemand Geburtstag feiert. Wir fühlen uns unwohl, jemanden anzusprechen? Dann üben wir, indem wir Verkäufer oder Verkäuferinnen ansprechen, Menschen grüßen, die mit dem Hund an unserem Garten vorbeikommen oder halten Smalltalk mit der Bedienung im Restaurant. Wir haben Hemmungen uns auf eine attraktive Position am Arbeitsplatz zu bewerben? Dann holen wir uns proaktiv Aufgaben, die uns schon ein wenig in die Richtung qualifizieren. Wir übernehmen mehr Verantwortung bei dem, was wir bisher machen. Wir nutzen Gespräche mit der Führungskraft, um kontrolliert mehr Erfahrung und Verantwortung zu gewinnen. Wir wünschen uns mehr Bewegung und Sport im Leben? Dann fangen wir mit kleinen Routinen an: Gehen z.B. immer auf die Toilette in einem anderen Stockwerk im Büro – zu Fuß, nicht mit dem Aufzug. Oder machen fünf Liegestützen, bevor wir etwas aus dem Kühlschrank nehmen. Oder wir nutzen einen höhenverstellbaren Schreibtisch, arbeiten im Stehen.
4. Mentoren einsetzen
Wenn wir Autofahren lernen, ist typischerweise ein Fahrlehrer dabei. Die Risiken im Straßenverkehr sind hoch, wir profitieren sehr von so einer Begleitung. Wie auch immer wir diese Personen nennen: Lehrer, Coaches, Berater, Mentoren – oder einfach nur Freunde, Kollegen und Führungskräfte. Vieles lernt sich mit kundiger Begleitung besser. Und die meisten Menschen nutzen das viel zu wenig. Wir profitieren durch Unterstützung von erfahrenen und kompetenten Personen auf unserem Weg in die Wachstumszone. Wir profitieren durch ihre bewährten Tipps, Lösungen und Tricks.
5. Motivierendes soziales Umfeld
Emotionen sind ansteckend, übertragen sich schnell von Mensch zu Mensch (z.B. Barsade, 2002). Daher sollten wir unser Umfeld befreien von Menschen, die deprimiert, antriebslos und negativ sind. Wir sollten Personen meiden, die uns andauernd nur sagen wollen, was alles nicht geht und was wir nicht können, die kein ausgewogenes Bild von uns spiegeln. Wir umgeben uns dafür mit Personen, die in uns bereits das Potenzial sehen, wo wir hin wollen. Wir umgeben uns mit Menschen, die in die gleiche Richtung gehen, die idealerweise mitmachen – sei es beim Sport oder wo auch immer wir aus der Komfortzone gehen wollen. Wir suchen Menschen, die Liebe, Dynamik, Motivation und positive Energie ausstrahlen. Diese Ausstrahlung lassen wir auf uns wirken wie Sonnenschein.
6. Optimistisches Denken fördern
Pessimisten denken, dass Umstände negativ sind und dass das unveränderlich so bleibt. Sie bleiben in ihrer Komfortzone, draußen ist das „Wetter“ schlecht, der Wind weht kalt, es schneit, der Boden ist glatt – und das bleibt so. Optimisten dagegen glauben, dass Umstände positiv sind, dass ungünstige Umstände veränderbar und vorübergehend sind (Seligman, 1998). Sie sehen die Chancen, sind daher motivierter und treten eher aus der Komfortzone heraus. Um aus der Komfortzone zu kommen, brauchen wir daher gesunden Optimismus. Wir sehen das berühmte „Glas“ halb voll – und als ein Glas, das man weiter auffüllen kann.
7. Disziplin lernen
Ja, Disziplin kann man lernen. Das zeigt die umfangreiche Forschung rund um das Thema Selbstdisziplin. Und oft werden wir ein wenig Disziplin brauchen, um aus unserer Komfortzone zu gehen. Selbstdisziplin hilft uns heute zu investieren, um morgen mehr zu haben. Unsere Disziplin funktioniert wie ein Muskel, den wir trainieren können. Um Disziplin zu trainieren, sagen wir öfter einmal „nein“ zu unmittelbaren Bedürfnissen, die uns schaden: Wir stehen sofort auf, wenn der Wecker klingelt – und dösen nicht weiter. Wir stehen vielleicht sogar etwas früher auf als gewohnt und meditieren. Der zweite Teller Essen fällt aus. Die süße Nachspeise bleibt weg. Das Bier gibt es erst zum Abendessen. Der Fernseher bleibt aus. Wir nehmen das Rad statt des Autos. Die letzte Minute duschen wir kalt… Wir selbst kennen uns am besten und wissen genau, was zu tun ist. Dafür gehen wir ganz bewusst solche kleinen Schritte aus unserer Komfortzone im Alltag. Wir tun das deshalb ganz bewusst, um unseren Fortschritt zu sehen. Damit trainieren wir unseren Disziplin-Muskel, sagen „ja“ zum Investment in unsere Zukunft. Und wenn es dann so weit ist, dass wir Disziplin wirklich brauchen, wir die Komfortzone verlassen, dann sind wir gut trainiert und vorbereitet.
8. Die Macht der Vorstellung nutzen
Unsere Komfortzone verlassen wir auch mit Hilfe der Macht unserer Fantasie und Vorstellung. Katharina die Große aus dem obigen Beispiel hatte offenbar schon als Kind die Vision, einmal eine europäische Königskrone zu tragen – als Herrscherin. Auch eine Schreckensvision kann hilfreich sein: „Was passiert, wenn ich so weiter mache wie bisher? Wo bin ich dann in zehn Jahren? Wie sieht mein Leben aus?“ Eine Vision sollte sehr emotional sein, wir sollten den negativen Zustand spüren, sehen, riechen, schmecken, hören… am besten malen wir ein abstoßendes Bild oder machen eine Collage davon, ekeln uns davor, sind traurig bei der Vorstellung. Als Kontrast und Gegenpol entwickeln und nutzen wir eine positive Vision, ein „best possible self“. Auch hier zählt Emotion: Wie fühlt sich unser zukünftiges Leben an, wie sieht es dort aus, welche Emotionen haben wir, wer ist mit uns, wie ist unser Leben? Nicht Argumente und Fakten, sondern Bilder und Gefühle sind dabei erfolgsentscheidend. Bei wirksamen Visionen fühlen wir eine Kraft, die uns dort hinzieht – oder abstößt, motiviert und unser Denken und Handeln fokussiert. Wir nutzen diese Visionen, rufen sie ab, wenn es hart ist, wir Motivation brauchen, um erfolgreich unsere Komfortzone zu verlassen und zu wachsen.
Ein wichtiger Gedanke und Tipp zum Abschluss: Viele glauben, man muss unbedingt die Komfortzone verlassen, damit diese wächst. Das ist nicht zwangsläufig so. Wir können auch innerhalb der Komfortzone mit guten Gewohnheiten unsere Komfortzone ausdehnen. Damit bauen wir Routinen auf, festigen vorhandenes Können weiter. Doch diese Art von Wachstum ist sehr begrenzt. Am Ende geht es darum, unsere Komfortzone zu verlassen, uns Neuem und Unbekanntem zu stellen, damit wir uns entwickeln können. Darum geht es auch in der folgenden Frage an den Autor.
Im nächsten Kapitel geht es um die Bedeutung von Konzentration und Fokus im Leben.