Reaktivität und Durchschaubarkeit unerwünscht? Verblindung, Doppelblindstudie und Placebo-Effekt

Häufig ist es im Interesse der Forschungsziele, dass die Versuchsteilnehmer nicht alles über die Untersuchung und Forschungsfrage wissen. Man bezeichnet dieses Kontinuum als Durchschaubarkeit einer Versuchssituation. Wissen Teilnehmer, dass eine Untersuchung stattfindet und um die Ziele einer Studie, dann verändert das ihr Verhalten, man nennt das Reaktivität. Das möchte man natürlich begrenzen um die Aussagekraft der Ergebnisse zu sichern. Maßnahmen dafür bezeichnet man als Verblindung. Dieser Beitrag gibt Definitionen für die Begriffe Reaktivität und Durchschaubarkeit, er zeigt Abstufungen der Durchschaubarkeit von Untersuchungen, gibt Tipps zur Verblindung von Versuchsteilnehmern, zeigt Beispiele und geht auf die Schlagworte Doppelblindstudie und Placebo-Effekt ein. …

Reaktivität sinkt bei Verblindung: Versuchsteilnehmer sind reaktiv, wenn sie ihr Verhalten ändern, weil sie Wissen über den stattfindenden Versuch haben
Reaktivität sinkt bei Verblindung: Versuchsteilnehmer sind reaktiv, wenn sich ihr Verhalten ändert, weil sie Wissen über den stattfindenden Versuch haben

Reaktivität und Verblindung: Definitionen

Was bedeutet Reaktivität in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften? Die Definition ist einfach:

Reaktivität ist eine Veränderung des Verhaltens von Versuchsteilnehmern, verursacht durch deren Bewusstsein und Wissen über den stattfindenden Versuch.

Es geht also um eine Veränderung des Verhaltens durch das Bewusstsein darüber, dass ein Versuch stattfindet und das Wissen über Details im Versuch – etwa das Wissen darum, ob und welchen Wirkstoff man bekommt.

Eng mit der Reaktivität ist der Begriff Durchschaubarkeit verbunden. Hier die Definition:

Die Durchschaubarkeit einer Versuchssituation ist das Ausmaß an Bewusstsein und Wissen der Teilnehmer über den stattfindenden Versuch.

Die Durchschaubarkeit hängt wiederum von der Verblindung ab. Diese ist definiert als:

Verblindung sind alle Maßnahmen, die ergriffen werden, um das Bewusstsein und Wissen der Teilnehmer über den stattfindenden Versuch zu reduzieren.

Verblindung führt zu sogenannten Blindversuchen. Diese sind enstprechend definiert:

Blindversuche sind Versuche, bei denen die Teilnehmer zumindest kein Bewusstsein oder Wissen über ihre Zugehörigkeit zu den einzelnen Gruppen einer Untersuchung (Kontrollgruppe vs. Versuchsgruppe) haben.

Die Betonung liegt hier auf dem Wort zumindest. Verblindung kann natürlich weit darüber hinaus gehen, was oft sinnvoll ist. Etwa wissen Teilnehmer dann gar nicht, was die Ziele einer Untersuchung sind (Beispielsweise bekommen sie falsche Ziele genannt), das die Untersuchung gerade läuft (sie glauben, dass sie noch auf den Beginn warten oder der Versuch schon zu Ende ist) oder sie wissen nicht einmal, dass überhaupt eine Untersuchung stattfindet.

Sinnvoll ist häufig, dass außer den Versuchsteilnehmern auch der Versuchsleiter möglichst wenig die Versuchssituation durchschaut. Er kann sonst mit seinen Erwartungen die Antworten und Verhaltensweisen der Teilnehmer beeinflussen. Hier kommt der Begriff Doppelblindversuch bzw. Doppelblindstudie ins Spiel. Hier die Definition:

Doppelblindversuche sind Versuche, bei denen sowohl die Teilnehmer als auch die Versuchsleiter zumindest kein Bewusstsein oder Wissen über die Zugehörigkeit zu den einzelnen Gruppen einer Untersuchung (Kontrollgruppe vs. Versuchsgruppe) haben.

Was ist jetzt ein Placebo-Effekt? Typischerweise setzt man auch im medizinischen Bereich Doppelblindversuche ein, um Psychologische Effekte zu kontrollieren und etwa die Wirkung von neuen Medikamenten verlässlich zu bewerten. Hier wissen die Teilnehmer zwar, dass ein Versuch stattfindet, sie wissen aber nicht, ob sie einen Wirkstoff bekommen oder eine wirkungslose Tablette (Placebo). Typischerweise verbessert sich das Krankheitsbild auch bei der Einnahme von Placebos, da die Teilnehmer daran glauben, dass sie einen Wirkstoff bekommen. Auch der Versuchsleiter, der die Tabletten verabreicht, wird im Dunkeln darüber gelassen, welche Teilnehmer zur Versuchsgruppe (Wirkstoff) und welche zur Kontrollgruppe (Placebo) gehören. Er würde sonst mit seinen Erwartungen ebenfalls Einfluss auf die Wirkung (abhängige Variablen) haben. Beispielsweise könnte ein Versuchsleiter, der an einen Wirkstoff glaubt, sonst Optimismus ausstrahlen und damit die Genesung eines Patienten von einer Erkrankung beeinflussen. Etwas, was man zwar dem einzelnen Patienten gönnt, im Versuch aber nicht haben möchte, um dessen Aussagekraft zu sichern.

Der nächste Abschnitt zeigt verschiedene Abstufungen der Verblindung von Versuchssituationen.

Verblindung und Durchschaubarkeit: Abstufungen und Beispiele

Generell gilt daher aus der Sicht der Forscher: Je weniger durchschaubar, desto besser! Das gilt sowohl für die Versuchsteilnehmer als auch für den Versuchsleiter mit Kontakt zu den Teilnehmern. Natürlich lässt sich eine geringe Durchschaubarkeit nicht immer gewährleisten. Bei der Verblindung der Untersuchung für die Teilnehmer können mehrere Ebenen unterschieden werden (vgl. Spiegel, 1970).

Unter einer vollbiotischen Versuchssituation wissen die Teilnehmer überhaupt nicht, dass sie an einem Versuch teilnehmen. Im Labor ist dies schwer umsetzbar, diese günstige Situation wird man daher vorwiegend im Feld antreffen. Die Reaktivität der Versuchsteilnehmer ist hier natürlich mit Null anzusetzen, was optimal für die Aussagekraft der Ergebnisse ist.

Forschungsbeispiel: Areni und Kim, 1993

In einer quasibiotischen Versuchssituation wissen die Teilnehmer zwar, dass sie an einem Versuch teilnehmen, wissen aber nicht, dass er angefangen hat. Beispielsweise findet der Test bereits im Wartezimmer statt oder auf dem Weg zum vorgeblichen Versuchsraum. So werden mitunter im Wartezimmer Zeitschriften ausgelegt und man beobachtet, welche Zeitschriften von wem herausgegriffen werden und welche Inhalte beachtet (z.B. per Blickregistrierung) und später in einer Befragung erinnert werden.

Eine getarnte Versuchssituation (auch verdeckte Versuchssituation) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Teilnehmer wissen, dass ein Versuch stattfindet, sich aber mit einer vorgeschobenen Aufgabe beschäftigen. Die eigentlichen Versuchsziele bleiben dabei im Dunklen.

Forschungsbeispiel: Strahan, Spencer und Zanna, 2002
Bei der offenen Untersuchungssituation wissen die Teilnehmer, dass ein Versuch stattfindet und sie kennen auch das Versuchsziel. Insbesondere hier ist Reaktivität zu beachten, idealerweise zu messen und bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen. Reaktivität bedeutet, dass die Versuchsteilnehmer sich anders als natürlich Verhalten, nur weil ein Versuch stattfindet.

Diese Form der Untersuchung ist die weitaus häufigste in der Marktforschung und auch bei der Personalforschung. Sollen beispielsweise Prospekte für ein Unternehmen optimiert werden, wird man in einer Phase häufig verschiedene Prototypen den Versuchspersonen zur Bewertung vorlegen. Diese Personen wissen dann genau worum es geht. Ebenso bei Car Clinics, bei denen Personen Testfahrzeuge in Interviews bewerten und vielen anderen Marktforschungsprojekten. Bei typischen Untersuchungen im Personalbereich, wie Mitarbeiterbefragungen, Assessmentcentern, Führungsfeedbacks und Einstellungsinterviews ist meist ebenfalls ein hohes Maß an Transparenz gegeben.

Der letzte Abschnitt gibt Literaturhinweise zur weiteren Vertiefung.

Reaktivität: Literatur

Aktuelle Literatur-Tipps zu Reaktivität.

Der nächste Beitrag geht auf die Auswahl von geeigneten Erhebungsverfahren ein.