Viele Menschen sagen zu oft „ja“ zu unberechtigten Forderungen anderer und ärgern sich danach. Zu Recht. Denn: Jedes Ja ist immer auch ein Nein. Und viel zu oft ist es ein Nein zu unseren eigenen Lebens-Zielen, Wünschen, Interessen, Bedürfnissen und Träumen. Um überhaupt Platz und Zeit in unserem Leben für unsere eigenen Ziele zu haben, brauchen wir deshalb klare Grenzen. Grenzen schützen uns: Sie schützen uns vor Übergriffen auf unseren Körper, unsere Psyche, unseren Besitz und unsere Zeit. Indem wir Grenzen setzen, teilen wir den Menschen in unserem Umfeld wirksam mit, was geht – und was nicht geht. Das Thema betrifft längst nicht nur sogenannte „überangepasste“ Menschen, die es andauernd allen recht machen wollen.
Dieser Beitrag zeigt typische Anforderungen von außen, die scheinbar wichtig sind – aber meistens nur laut und schrill drängen. Er zeigt, wie wir aus Sicht der Psychologie Grenzen setzen und stärken. Und es geht darum, wie wir ausbeuterische Beziehungen und Menschen erkennen. Zudem gibt es Tipps, wie wir souverän nein sagen lernen.
Autor: Diplompsychologe Professor Dr. Florian Becker
Ohne klare Grenzen wissen oder respektieren unsere Mitmenschen nicht, was uns wichtig ist – und was uns nicht wichtig ist, was wir mögen, was wir tolerieren und was wir ablehnen. Als Konsequenz werden wir andauernd verletzt. Damit laufen wir große Gefahr, dass uns andere Menschen für ihre Ziele und ihr Leben einspannen. Wir gewöhnen unser Umfeld daran und ziehen Personen an, die sich darauf spezialisiert haben, andere sehr einseitig für ihre Interessen einzusetzen. Andere schreiben dann das Drehbuch für unser Leben. Viele Menschen verbringen so ihr Leben damit, jeden zufrieden zu stellen – außer sich selbst. Oft spüren sie nicht einmal mehr, was sie selbst wollen.
In diesem Beitrag:
Überflutet von fremden Zielen
Über 80 Prozent der Deutschen geben in Umfragen an, regelmäßig „ja“ zu sagen, wenn sie jemand um etwas bittet – auch wenn sie es später bereuen und sich darüber ärgern. Besonders schwer nein sagen können sie offenbar ihren Freunden, ihren Eltern und Vorgesetzten. Männern fällt es eher schwer, ihrer Frau ein Nein zu geben. Frauen tun sich tendenziell schwerer, ihren Kindern einen Wunsch abzusprechen. Selbst ihrem Hund gegenüber ist es für viele schwierig, Grenzen zu ziehen. Jüngere Menschen sind noch stärker davon betroffen als ältere (Strobel, 2015). Offenbar lernen einige Menschen im Alter zunehmend Grenzen zu setzen.
Wir tun uns also schwer, Grenzen zu ziehen. Im Alltag dominieren daher oft laute, dringende Ziele von außen unser Leben. Diese Forderungen machen Lärm und erwecken den Eindruck, dass sie wichtig sind. Typischerweise kommen diese Ziele von außen, sind „fremde“ Ziele. Das zeigt der Schaukasten mit Beispielen.
- Das E-Mail-Postfach ist voll mit verschiedenen Anfragen. Die müssen dringend beantwortet werden.
- Das Telefon klingelt – sofort rangehen!
- Die Chefin fragt, ob wir ein paar Überstunden machen können – der Kunde will Ergebnisse!
- Unser Kind will seine Lieblingsserie sehen. Jetzt gleich!
- Die Putzfrau kommt, die Wohnung muss aufgeräumt werden.
- Das Finanzamt möchte die Umsatzsteuervoranmeldung. Jetzt aber hurtig.
- Die Frist für die Nebenkostenabrechnung läuft ab. Schnell.
- Weihnachten steht vor der Türe, es müssen Geschenke her. Dalli.
- Laub liegt am Rasen, es muss gerecht werden.
- Die Kinder brauchen Ski-Ausrüstung, weil es ins Skilager geht.
- Irgendjemand in der Schulklasse muss wieder Elternsprecher „machen“. Ach komm, bitte, du kannst das doch schon so gut!
- …
Diese Beispiele zeigen: Viele Menschen können nicht ihren Impuls unterdrücken, diesen „dringenden“ aber meist nicht wichtigen Dingen nachzugeben. So opfern sie immer und immer wieder ihre kostbare Lebenszeit diesen unwichtigen Unterbrechungen. Das eigene Leben, die eigenen Ressourcen bleiben dabei dann oft auf der Strecke. Und manchmal entlädt sich der Druck dann in einem ungerechten Wutanfall, in einer Überreaktion – etwa den eigenen Kindern gegenüber.
Warum fällt es vielen Menschen so schwer, Grenzen zu anderen zu ziehen, selbstbestimmt zu sein? Warum lassen Menschen das zu?
Ein Grund ist: Dafür bekommen sie oberflächliche Anerkennung, denn andere finden es ganz toll, dass diese Menschen sofort auf alle Ansprüche und Forderungen von außen reagieren. Sie bekommen Applaus dafür, dass sie sich für die Ziele anderer aufzehren. Sie bekommen Zustimmung dafür, dass sie ein Leben als Krisen-Manager verbringen, ein „Feuer“ nach dem anderen austreten müssen. Sie sind ein Spielball ihrer Umwelt. Doch die Anerkennung von außen für die Selbstaufopferung ist auch nur ein oberflächliches Schauspiel, ein Trugschluss (Parks und Stone, 2010) – dazu später mehr.
Ein anderer Grund ist, dass diese Menschen glauben, andere wären sonst enttäuscht von ihnen. Im Hintergrund haben sie oft Glaubenssätze wie: „Wenn ich anderen nicht helfe, dann mögen sie mich nicht mehr!“, „Wenn mich jemand um Unterstützung bittet, dann darf ich nicht nein sagen, sonst bin ich kein guter Mensch!“, „Wenn ich eigene Interessen zeige, dann lehnen mich andere Menschen ab.“ oder „Wenn ich anderen oft helfe, dann werden sie dankbar sein!“
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von Diplompsychologe Prof. Dr. Florian Becker
Einige der Beispiele zeigen, dass es auch darum geht, gelegentlich zu uns selbst nein zu sagen. Wir haben nicht unendlich Zeit. Was ist uns wirklich wichtig? Den Rasen immer perfekt haben und kein Blatt Laub im Garten – oder etwas Lesen für unsere Bildung? Fünf Stunden Fernsehen am Tag – oder doch etwas Zeit für die Kinder, Sport und Freunde? Dabei geht es um Selbstdisziplin.
Der Schaukasten diskutiert, ob unser Schulsystem fremdbestimmte Menschen „produziert“ und damit seinen Teil beiträgt, dass viele Menschen nicht nein sagen können.
Fördert unser Schulsystem fremdbestimmtes Handeln? Erzieht unser Schulsystem Kinder dazu, ihre Grenzen zu ignorieren, ja sogar nicht mehr zu spüren?
Als Erwachsene sind wir erfolgreich, wenn wir einer Sache mit hoher Leidenschaft und viel Fokus nachgehen – einer Sache, die uns erfüllt. Einer Sache, bei der wir spüren, sie ist unsere. Einer Sache, die unser Denken und unsere Aufmerksamkeit bestimmt und verhindert, dass wir uns von anderen Themen ablenken lassen. Einer Sache, für die wir sehr oft „nein“ sagen zu anderen Sachen. So entstehen Spitzenleistung, Fortschritt und all die Menschen, die wir bewundern. Albert Einstein zum Beispiel hat sehr viel „ja“ gesagt zu Physik – und dafür sehr viel „nein“ zu anderen Dingen. Michael Phelps hat 28 olympische Medaillen gewonnen – mehr als jeder andere Mensch. Dafür hat er sehr viel „ja“ gesagt zum Schwimmen – und sehr viel „nein“ zu anderem.
Schule funktioniert anders. Die Erwartung ist hier: „Alles muss dich zumindest mittelmäßig interessieren! Du darfst zu nichts nein sagen – sonst erreichst du das Klassenziel nicht.“ Selbst Förderklassen für hochbegabte Kinder funktionieren so, dass die Kinder mehr Fächer machen (z.B. früher und mehr Fremdsprachen), anstatt dass sie ihre Hochbegabungen in die Tiefe zur Blüte und Perfektion entfalten könnten: mehr „ja zu Allem“ statt Fokus und Leidenschaft.
Ein proaktives Kind mit klarem Fokus und starker Leidenschaft für ein Thema, z.B. Mathematik und Informatik, das alle Aufmerksamkeit, alle Leidenschaft dort investiert, das „nein“ sagt zu Ablenkungen aus anderen Bereichen, scheitert in der Schule. Nochmal: Ein Kind, das sich psychisch gesund verhält, Grenzen setzt, scheitert. Ein Kind, das sich so verhält, wie wir es uns bei einem selbstbestimmten Erwachsenen später wünschen, scheitert in unseren Schulen.
Kein Wunder also, dass viele Kinder psychisch leiden im Schulsystem, Medikamente bekommen, um zu allem „ja“ zu sagen, konzentriert zu sein, passiv zu reagieren, zu funktionieren. Kein Wunder also, dass viele Erwachsene gelernt haben, zu allem „ja“ zu sagen, reaktiv Anforderungen und Aufgaben von außen zu erfüllen, abzuarbeiten. In der Schule haben sie verlernt, ihre Interessen und Leidenschaften zu spüren. Ja, um erfolgreich zu sein, mussten sie sehr oft „nein“ sagen zu ihren Leidenschaften und sehr oft „ja“ zu fremden Anforderungen. Wer nichts mehr spürt und zu allem Fremdem „ja“ sagt, überlebt das Schulsystem besser. Doch wir scheitern dann als Erwachsene, spüren unsere Träume und Leidenschaften nicht mehr. Wir sind dann reaktiv geworden. Wir sind Befehlsempfänger und sagen nicht mehr oft „nein“ zu anderen – dafür sagen wir umso öfter „nein“ zu uns, zu unseren Träumen.
Fazit: Unsere Zeit ist unsere kostbarste Ressource und sehr begrenzt. Wir können nicht nicht nein sagen. Jedes Ja zu einer Tätigkeit ist auch immer ein Nein zu anderen Tätigkeiten. Denn immer, wenn wir „ja“ zu etwas sagen, dann sagen wir automatisch „nein“ zu etwas anderem. Oft trifft dieses Nein dann unsere wichtigen aber nicht dringenden Ziele, unsere Träume, unsere Zukunft. Und allzu oft sagen wir dafür gedankenlos „ja“ zu unwichtigen und fremden Zielen. Es ist Zeit souverän „nein“ zu sagen. Und damit ist natürlich nicht gemeint, dass wir gnadenlos egoistisch nur noch die eigenen Interessen betonen. So wären wir auch schnell unbeliebt und sozial isoliert. Es geht um das freundliche aber bestimmte Setzen von angemessenen Grenzen. Grenzen, die uns Respekt und Anerkennung bringen – und Zeit für unsere wirklich wichtigen Themen im Leben. Wie also setzen wir Grenzen?
Grenzen setzen
Grenzen zu setzen ist für eine Positive Psychologie also zentral. Wie können wir uns vor der Überflutung mit scheinbar dringenden, fremden Zielen schützen? Wie können wir klar und doch sozial verträglich Grenzen setzen? Es folgen Tipps zum Grenzen setzen.
1. Eigene Grenzen bewusst machen
Die wichtigste Grundlage, um Grenzen zu setzen, ist uns diese überhaupt bewusst zu machen, unsere Grenzen zu fühlen. Das tun wir einerseits mit einer eigenen klaren und attraktiven Lebens-Vision. Jedes klare Ja ist auch immer ein klares Nein. Unser brennendes Ja zur eigenen Vision, zu uns selbst, führt automatisch zu einem Nein zu fremden Zielen. Es ist wichtig, uns selbst klar zu sagen: „Ein Nein ist immer auch ein Ja – ein Ja zu meinen Bedürfnissen!“ Wenn wir nicht wissen, was wir selbst wollen, dann sagen uns andere, was wir zu wollen haben.
Um unserer Grenzen gewahr zu werden, ist zudem Achtsamkeit gegenüber uns selbst wichtig: Wie fühle ich mich in einer bestimmten Situation mit jemandem anderen? Was löst das Verhalten einer Person bei mir aus? Der Schaukasten gibt Tipps dazu, wie wir besser unsere Grenzen spüren.
Diese Fragen helfen Dir, Deine Grenzen besser zu spüren in typischen Alltagssituationen.
- Im Gespräch: Wann fängt es an, mich zu langweilen und ich möchte gerne weg? Mit welcher Frage fühle ich mich unter Druck gesetzt, welche geht zu sehr in meine privaten Belange? Wie geht es mir, wenn andere mich unterbrechen? Wann sprechen andere mir zu laut? Wann ist mir ein Kommunikationsstil zu wenig wertschätzend, vielleicht sogar erniedrigend? Welche Berührungen finde ich nicht angemessen?
- Wenn wir etwas tun: Was macht mir wirklich Freude und Spaß? Womit geht es mir nicht so gut, wenn ich das mache? Was unterfordert mich? Welche Tätigkeiten überfordern mich?
- Pausen und Regeneration: Wann brauche ich eine Pause? Ab wann bin ich müde?
- Essen und Trinken: Wann möchte ich etwas trinken, habe ich Durst? Ab wann bin ich satt – und wo fängt es an, dass ich nur noch aus Appetit esse oder um etwas „fertig“ zu essen? Wann müsste ich mal auf die Toilette?
- Bei Temperatur und Kleidung: Wann fühle ich mich etwas zu kalt oder etwas zu warm? Welche Kleidung ist mir unbequem?
- Unterwegs in der Stadt: Ab wann kommt mir jemand zu nahe? Wann möchte ich jemandem ausweichen? Wie geht es mir, wenn ich jemandem nicht ausweiche?
- Beim Thema Finanzen: Wann fühle ich mich von anderen unfair behandelt, vielleicht sogar ausgenutzt?
- In einer Runde mit Menschen: Wie fühle ich mich dabei, wenn ich meine eigenen Grenzen körperlich ausdehne? Wie reagieren andere, wenn ich Raum einnehme, breitbeinig stehe, die Ellbogen ausfahre? Wann nehmen andere mehr Raum, als ich das mag?
- Wenn andere etwas von mir wollen: Wie fühle ich mich, wenn ich antworte: „nein“, „Ich überlege mir das und sage dir dann Bescheid.“, „Ich kann dir wann anders helfen, und zwar am Tag x von y bis z Uhr.“
- Bei der Zusammenarbeit: Wann ist es für mich nicht mehr partnerschaftlich, sondern einseitig, vielleicht sogar ausbeuterisch?
Stelle Dir regelmäßig diese Fragen. Diese Übung hilft uns, unsere Grenzen wieder besser zu fühlen und zu respektieren.
2. Selbstausbeuterisches Muster klarmachen
Ein wirksamer Schutzmechanismus für unsere Grenzen ist, dass wir uns das selbstausbeuterische Muster klar machen. Wenn wir immer „ja“ zu zweifelhaften Forderungen anderer sagen, dann sind wir vielleicht kurzfristig beliebt, bekommen scheinbar Anerkennung – aber langfristig verzichten wir dafür auf unsere eigenen Träume. Und überhaupt: Für was sind wir beliebt bei diesen Profiteuren? Respektieren sie uns dafür wirklich – oder sind wir nur angenehm und bequem für sie? Tatsächlich zeigen Daten, dass selbstausbeuterische Menschen, die immer „ja“ sagen, sogar weniger beliebt und respektiert sind (Parks und Stone, 2010). Das hat auch damit zu tun, dass sie den Standard anheben, den Führungskräfte, Lehrer oder Eltern dann auch von allen anderen erwarten. Die kleine Schwester beispielsweise, die immer alles für die Eltern tut, ist nicht beliebt bei ihren Geschwistern. Wenn die Eltern weg sind, dann wird sie sprichwörtlich an den Haaren gezogen. Das Motto ist: „Wenn diese Person so viel für andere macht, wie sehe ich dann daneben aus? Ich will sie nicht in meiner Nähe haben!“ Und die Ablehnung hat auch damit zu tun, dass solche Menschen als abnormal betrachtet werden: „Diese Person ist so anders als wir alle. Sie hat nichts mit uns zu tun. Sie ist nicht normal.“ Wichtig zu wissen: Wer immer „nein“ sagt, der ist natürlich auch nicht beliebt, zeigt die gleiche Studie. Fazit: Es geht um eine vernünftige Balance, ein souveränes Setzen von Grenzen. Einen unerwarteten Einblick in Forschung zum Thema „jemandem einen Gefallen tun und Beliebtheit“ zeigt der Schaukasten.
Sind wir beliebter, wenn wir jemandem einen Gefallen tun? Forschung zum Benjamin-Franklin-Effekt legt eine überraschende Alternative nahe: Es ist möglicherweise genau anders herum. Wir werden tatsächlich beliebter, wenn wir andere Menschen bitten, uns einen Gefallen zu tun. Der Effekt ist benannt nach dem US-Präsidenten Benjamin Franklin. Er beschrieb selbst sein Vorgehen so: Wenn wir jemanden dazu gebracht haben, uns einen kleinen Gefallen zu tun, dann ist es leichter einen zweiten und dritten größeren Gefallen zu bekommen. Offenbar wandte er diese Taktik auch an, etwa indem er Menschen systematisch darum bat, ihm ein seltenes Buch zu leihen, jemandem eine Botschaft auszurichten oder eine Information für ihn zu erfragen – all das mit dem Ziel, diese Menschen für sich zu gewinnen, beliebt bei ihnen zu werden.
Jahrzehnte später untersuchten Psychologen diesen Effekt. Unter anderem erfragten sie in Experimenten als Gefallen kleine Geldbeträge als Geschenk (Jecker und Landy, 1969), brachten Versuchsteilnehmer dazu, jemanden zu loben (Schopler und Compere, 1971) oder jemanden bei einer Aufgabe zu unterstützen (Niiya, 2016). Der Effekt davon war jeweils ein stärkeres „Mögen“ der Person für die Menschen etwas taten. Nochmal: Versuchspersonen mochten die andere Person lieber, nachdem man sie dazu gebracht hatte, etwas für diese Person zu tun.
Wie funktioniert der Benjamin-Franklin-Effekt? Eine psychologische Theorie ist, dass in dem Moment, in dem Personen etwas für uns tun, eine Frage bei diesen Personen im Kopf auftritt: „Warum tue ich das für diesen anderen Menschen?“ Diese Frage erzeugt psychologisch eine Spannung, kognitive Dissonanz. Unbewusst beantworten diese Personen die Frage für sich so: „Weil ich diesen Menschen mag!“ Diese Antwort baut die kognitive Dissonanz ab, die Spannung ist aufgelöst. Wichtig scheint zu sein, dass es Gefallen sind, die andere Personen gerne bereit sind zu tun, also kleine Gefälligkeiten – und dass es keinen direkten Austausch dafür gibt, also keine Bezahlung oder andere direkte Gegenleistungen. Denn mit Gegenleistungen baut sich diese kognitive Spannung nicht auf und der erhoffte Sympathiegewinn bleibt dann aus.
3. Grenzen mitteilen
Grenzen sind sehr unterschiedlich bei Menschen. Manche tolerieren etwas, ja mögen vielleicht sogar etwas, was für andere eine Grenzverletzung darstellt. Wenn andere unsere Grenzen nicht kennen, dann ist es kein Wunder, wenn sie uns verletzen. Woher auch sollten sie es wissen oder merken? Vielleicht halten sie uns nur für stark oder „reich“ oder für belastbar und motiviert? Typische Alltagsbeispiele für Grenzverletzungen sind:
- Eine Kollegin unterbricht uns wiederholt bei unserer Arbeit.
- Unser Mitbewohner kommt regelmäßig in unser Zimmer, um über sein Leben zu klagen.
- Im Meeting fällt uns ein Kollege fortwährend ins Wort.
- Der Nachbar hört immer wieder spät nachts laut Musik.
- Eine Führungskraft kommt uns körperlich zu nahe.
- Die Schwiegermutter „erklärt“ uns ungefragt, wie „richtige“ Erziehung geht.
- Der Beifahrer weiß, wie man besser Auto fährt.
Manchmal ist es uns unangenehm, Grenzüberschreitungen anzusprechen, jemandem mitzuteilen, dass uns etwas nicht interessiert, stört oder wir ihn nicht unterstützen oder nicht bei etwas mitmachen wollen. Diesem kurzfristig unangenehmen Gefühl müssen wir uns stellen, es überwinden. Langfristig schaden wir uns selbst zu sehr und auch den Beziehungen zu unseren Mitmenschen, wenn wir unsere Grenzen nicht achten und nicht schützen.
Wir sprechen unsere Gefühle, die eine bestimmte Situation oder ein Verhalten bei uns auslöst, klar an. Und wir sollten selbstbewusst mitteilen, welches Verhalten wir uns stattdessen wünschen – natürlich möglichst höflich und sozial verträglich.
Ein Beispiel für eine Formulierung bei der Unterbrechung beim Arbeiten: „Ich arbeite gerade und denke über eine komplexe Angelegenheit nach. Wenn du mich unterbrichst, passieren mir Fehler, ich muss mich danach wieder eindenken und wichtige Gedanken gehen verloren. Bitte komme mit spontanen Anliegen zu mir, bevor ich mit der Arbeit anfange oder gleich nach der Mittagspause.“
Dabei halten wir festen Blickkontakt und sprechen klar und deutlich. Wir entschuldigen uns nicht, denn unsere Forderung ist berechtigt. Wir haben nichts falsch gemacht, die andere Person hat etwas falsch gemacht. Wir bleiben dabei immer gelassen und lassen uns nicht provozieren. Notfalls wiederholen wir unsere Forderung sachlich.
Übe das anhand der obigen Alltagsbeispiele. Überlege Dir jeweils eine wirksame Formulierung, in der Du Deine Gefühle mitteilst, die das konkrete Verhalten und die Situation auslösen. Entwickle zudem eine klare Forderung, was Du Dir stattdessen wünschst. Übe vor dem Spiegel das klar und deutlich mit festem Blickkontakt mitzuteilen.
Sicher erlebst Du im Alltag Grenzverletzungen. Übe das Vorgehen vor dem Spiegel mit einem eigenen Beispiel.
Als letztes der Schritt in die Praxis: Wende das bei der nächsten Situation an.
Wie sind Deine Erfahrungen? Gibt es noch Übungsbedarf? Experimentiere und beobachte genau, wie andere reagieren. So baust Du Kompetenz auf und kannst Deine Grenzen immer wirksamer mitteilen.
Unsere Grenzen zu spüren und mitzuteilen ist ein wichtiger Schutzfaktor. Zusätzlich geht es darum, missbräuchliche Beziehungen zu erkennen.
Missbräuchliche Beziehungen erkennen
Um unsere Grenzen zu schützen, sollten wir missbräuchliche Beziehungen erkennen und Personen meiden, die unsere Grenzen verletzen. Wie können wir grenzverletzende Menschen erkennen? Eine wichtige Art grenzverletzenden Verhaltens zeigen Menschen, die uns für ihre Ziele einspannen wollen, ohne zurückzugeben. Diese Art von missbräuchlichen Beziehungen ist besonders schädlich, da diese Menschen unser Leben mit fremden Zielen fluten. Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft dafür überraschend tolerant und unsensibel – im Vergleich zu anderen Grenzverletzungen, wie etwa körperlicher Gewalt. Für diese Personen gibt es viele Begriffe. Umgangssprachlich redet man von jemandem „vom Stamme der Nimm“ oder Egoisten. Wissenschaftlich gibt es den Begriff soziale Trittbrettfahrer (Hung, Chi und Lu, 2009). Eine Definition:
Oft ist das soziale Trittbrettfahren mit geringer Empathie für die Bedürfnisse anderer gepaart. Wie können wir solche Personen erkennen, die unsere Grenzen verletzen, uns ausnutzen wollen? Wie können wir missbräuchliche Beziehungsmuster erkennen?
Es gibt Alarmzeichen im Verhalten von Trittbrettfahrern, die wir sehr ernst nehmen sollten. So verhalten sich soziale Trittbrettfahrer:
- Nicht-Zurückgeben. Soziale Trittbrettfahrer wollen unsere Aufmerksamkeit, unsere Zeit, unsere Gedanken und unserer Hände Arbeit für sich – doch es kommt wenig bis nichts zurück. Wir sollen ihnen zuhören, uns um ihre Sorgen kümmern. Doch wenn wir sie einmal selbst brauchen, dann haben sie dafür keine Kapazität.
- Vermeiden von persönlicher Verantwortung. Trittbrettfahrer wollen nicht klar als Einzelperson für Ergebnisse verantwortlich sein. Sie brauchen einen „Dummen“. Daher suchen sie Bedingungen, in denen sie immer etwas „zusammen“ mit anderen machen, sich hinter anderen Personen verstecken können.
- Weg-Delegieren von Aufgaben. Trittbrettfahrer versuchen Aufgaben von sich fernzuhalten. Dabei sind sie sehr erfindungsreich. Sie nutzen Inkompetenz als Waffe, lassen ihre Aufgaben absichtlich scheitern. Oder sie haben auf einmal diese und jene „Krankheiten“, schwere soziale Probleme, früher „so viel für jemanden gemacht“, der sich jetzt „erkenntlich zeigen“ und etwas zurückgeben soll… Gerne richten sich Trittbrettfahrer dafür in einer scheinbaren und permanenten „Opferrolle“ ein. „Ich bin ein Opfer, du musst dich jetzt um mich kümmern!“ Tatsächlich machen sie ihre Mitmenschen zu ihren Opfern.
- Arbeitsvermeidung. Arbeitsvermeidung bei gemeinsamen Tätigkeiten ist das zuverlässigste Phänomen: unangemessen häufige Pausen, schlechte Qualität bei der Umsetzung, überflüssige und langatmige Gespräche mit anderen, ausbleibende Reaktionen auf E-Mails und Anfragen und einfach Vernachlässigung der Aufgaben und Pflichten. All dies ist fester Bestandteil im Trittbrettfahrerverhalten.
- Suche nach selbstaufopfernden Personen. Trittbrettfahrer suchen und lieben Menschen, die sich für andere aufopfern, denn sie „leben“ davon. Manche Menschen sind überangepasst, haben sich fest mit der Rolle des helfenden, netten Menschen identifiziert. Man nennt sie „people pleaser“. Sie sind das perfekte Gegenstück.
Wir sollten diese Verhaltensweisen als das erkennen, was sie sind: Strategien, um Arbeit zu uns zu schieben und die Beziehung sehr einseitig zu unserem Nachteil zu gestalten. Häufig haben Betroffene einen Teil der Verantwortung für das Entstehen eines solchen Systems. Indem sie ihre Grenzen nicht schützen, fördern sie dieses einseitige Verhalten der Anderen. Die Trittbrettfahrer profitieren, gewöhnen sich an diese Art der Beziehung und entwickeln sogar ein Anspruchsdenken.
Der Schaukasten zeigt Merkmale von Trittbrettfahrern.
- nicht gewissenhaft. Eines der wichtigsten Persönlichkeitsmerkmale für Menschen ist Gewissenhaftigkeit. Gewissenhafte Personen planen sorgfältig, fangen pünktlich mit ihren Arbeitsaufgaben an und erledigen diese wie besprochen. Bei ihnen ist Trittbrettfahren wesentlich weniger ausgeprägt (Tan und Tan, 2008).
- geringe Belastbarkeit. Personen, die sich nicht vernünftig von Anstrengung regenerieren, wenig belastbar sind und schnell erschöpft fühlen, reduzieren ihre Leistung auf Kosten anderer, um sich zu schonen (Hoeksema-van Orden, 1998; Bluhm, 2009).
- niedrige Motivation. Personen, die nicht wirklich an einer Aufgabe interessiert sind und wenig Freude daran haben, neigen bei der Zusammenarbeit zum Trittbrettfahren. Personen die also extrinsisch motiviert sind, nur wegen äußeren Gründen (etwa Geld) an einer Tätigkeit oder Beziehung interessiert sind, zeigen eher Trittbrettfahrerverhalten.
- eher männlich. Frauen sind weniger anfällig für soziales Faulenzen in Teams. Männer bringen tendenziell lieber „ihr Ding“ voran, als etwas für alle in einem Team oder gemeinsam zu tun.
- mangelnde soziale Orientierung. Menschen, denen die Zughörigkeit zu einer Gruppe und gute Beziehungen unwichtig sind, sind anfälliger für soziales Faulenzen.
Natürlich sollten wir unser soziales Umfeld nicht rein anhand dieser Merkmale umbauen – es können jedoch erste Warnhinweise sein, die wir bei der Auswahl von Personen beachten, mit denen wir leben und arbeiten.
Eine weitere Variante der ausbeuterischen Beziehungen etablieren Menschen mit narzisstischen Zügen. Während soziale Trittbrettfahrer sich häufig hinter scheinbarer Schwäche verstecken, aus einer Opferrolle agieren, missbrauchen narzisstische Personen Beziehungen aus einer dominanten Position. Das sind typische Denk- und Verhaltensmuster von narzisstischen Personen:
- Mangeldenken. Narzisstische Personen sehen das Leben als Nullsummenspiel, in dem es nur darum geht, maximal viel vom „Kuchen“ zu bekommen. Das Konzept, dass beide Seiten von einer Zusammenarbeit profitieren können oder der „Kuchen“ sogar wächst, ist ihnen fremd. Sie freuen sich daher nicht, wenn andere erfolgreich sind – sie sehen es als ihren Verlust an. Mitunter verzichten sie sogar auf einen Gewinn, wenn andere noch mehr profitieren würden. Ein Beispiel dafür ist folgende Testfrage an ein Kind (alleine ohne weitere Zuhörer): „Was ist dir lieber: Du bekommst zwei Gummibärchen und das andere Kind vier Gummibärchen – oder du bekommst ein Gummibärchen und das andere Kind überhaupt keines?“ Manche Kinder wählen dabei die zweite Alternative. Sie schaden sich selbst, damit andere noch weniger bekommen. Das ist Mangeldenken. Bei Erwachsenen ist es das Gleiche – nur geht es nicht mehr um Gummibärchen.
- Schwaches Umfeld. Typischerweise umgeben sich narzisstische Personen mit schwächeren Menschen und Jasagern, die sie bewundern. Der Grund ist, dass sie stärkere Menschen nicht als Möglichkeit, um gemeinsam zu wachsen oder als Bereicherung erkennen. Sie sehen sie rein als Bedrohung, jemanden, der ihnen etwas wegnehmen könnte. Manche Menschen sind „people pleaser“, wollen es allen recht machen. Sie sind ein natürliches Gegenstück für ausbeuterische Personen mit der Orientierung „win / lose“ – ich gewinne auf Kosten von anderen.
- Dreiste Ansprüche. Passend zum schwachen Umfeld entwickeln narzisstische Personen dann oft dreiste Ansprüche, sehen sich als Mensch mit „Vorfahrt“, mit einer Sonderstellung. Die Bedürfnisse und Interessen anderer zählen dann nicht – nur eine Person steht im Mittelpunkt: sie selbst.
- Emotionale Manipulation. Ausbeuterische Persönlichkeiten haben oft eine sehr charismatische und beeindruckende Ausstrahlung. Sie haben die Überzeugung, etwas Besonderes zu sein und strahlen das auf andere aus. Dabei machen sie andere Menschen emotional von sich abhängig und vermitteln Schuldgefühle.
Wie können wir grenzverletzende Menschen von uns fern halten? Manche Menschen haben sich gezielt darauf spezialisiert, ganz bewusst ihre Ziele über andere Menschen als „Lastesel“ zu erreichen. Jeder soziale Trittbrettfahrer und jeder Narzisst braucht komplementäre Mitmenschen, damit die missbräuchliche Beziehung funktioniert. Zu einem wirksamen Nein-sagen gehört, dass wir Menschen mit dieser Neigung auf Distanz halten. Personen sind zu meiden, die rücksichtslos über unsere Grenzen gehen, unsere Zeit allein für sich und ihre eigenen Ziele einsetzen wollen. Wichtig sind daher Fragen wie: „Will ich überhaupt eine Beziehung, in der meine Bedürfnisse so wenig beachtet sind?“ Dagegen sollten wir Menschen in unserem Umfeld anreichern, die partnerschaftlich sind. Solche Menschen denken langfristig in Form von „win / win“, suchen positive Synergie und Resonanz mit uns und wollen, dass wir ebenso Vorteile aus der Beziehung haben wie sie selbst.
Was für den einzelnen Menschen gilt, das gilt auch für ganze Organisationen wie folgender Schaukasten zeigt.
- Banken sind in Schieflage geraten. Wir müssen die stützen.
- Ein Land ist insolvent… wir müssen finanzieren.
- Millionen Flüchtlinge kommen über die Grenze. Wir brauchen schnell Wohnungen, Ärzte, Lehrer, Anwälte, Sprachkurse, …
- Ein Virus bedroht uns. Hilfe, wir müssen was tun!
- Die Energiepreise steigen, die Bürger sind unzufrieden. Wir müssen die Industrie retten und die Bürger entlasten.
- Der wichtigste Energielieferant fällt aus… Oh, wir müssen schnell Ersatz finden.
- …
Fazit: Grenzen schützen bedeutet nicht, selbst zum grenzverletzenden Menschen zu werden. Doch es bedeutet, dass wir denjenigen Grenzen setzen, die auf Kosten anderer ihr Leben führen wollen. Dazu ist im Leben mitunter ein klar ausgesprochenes Nein erforderlich.
Souverän nein sagen
Um uns vor Ausbeutung zu schützen, sind wir gefordert wirksam „nein“ zu sagen. Damit erreichen wir mehr Zeit für das, was uns wichtig ist im Leben. Mit dem folgenden Tipps sagen wir richtig nein.
1. Innere Haltung festigen
Unsere innere Haltung entscheidet darüber, ob wir wirksam nein sagen. Wir haben das Recht, ja sogar die Pflicht, unsere Interessen zu vertreten und zu schützen. Mit einem Nein geben wir anderen Menschen Klarheit, wo unsere Grenzen sind und sie können zuverlässig planen. Diese innere Haltung sollten wir daher festigen: „Wenn ich jetzt ja sage, dann mache ich mir selbst und meinen liebsten Menschen Probleme. Es ist mein Recht, nein zu sagen!“
Es ist ja erstmal positiv, wenn eine Person an uns mit einem Wunsch herantritt: Jemand sieht Kompetenz in uns, möchte etwas von uns. Besonders Menschen deren Ego sich stark mit der Vorstellung identifiziert „Ich bin ein sozialer Mensch!“ sind allerdings stark gefährdet für selbstausbeuterische Muster. Sie denken sich Dinge wie: „Wenn ich jetzt nein sage, dann mache ich der anderen Person Probleme. Sie wird enttäuscht sein. Dann bin ich nicht mehr so beliebt.“ Das ist bei unberechtigten Forderungen kontra-produktiv. Wir brauchen innere Stärke, damit wir wirksam nein sagen.
2. Nicht überrumpeln lassen
Grenzverletzende Menschen platzen oft vollkommen überraschend mit Forderungen in unser Leben. Sie haben sich auf die Situation vorbereitet – wir nicht. Wenn uns jetzt ein „o.k.“ rausrutscht, dann können wir nicht mehr leicht zurück. In so einer Situation geht es für uns um Zeitgewinnung. Eine gute Antwort kann hier sein: „Das Anliegen kommt jetzt für mich überraschend. Ich kläre das und melde mich nochmal dazu.“
3. Keine rhetorischen Weichmacher
Worte sind mächtig. Das gilt ganz besonders beim Setzen von Grenzen. Weichmacher sind Worte wie: eigentlich, ziemlich, irgendwie, vielleicht. Sie reduzieren unsere Aussage. Wenn wir versuchen eine Forderung abzulehnen mit Aussagen wie „Eigentlich habe ich am Wochenende etwas anderes vor…“, dann bleibt es meist beim Versuch. Rücksichtslose Forderer erkennen daraus die Schwäche unserer Position – und setzen nach. Stattdessen sagen wir: „Ich habe das Wochenende schon anders eingeplant.“
4. Keine Entschuldigung
Viele Menschen entschuldigen sich dafür, wenn sie etwas berechtigt ablehnen. Wenn wir uns entschuldigen, suggerieren wir aber anderen und uns selbst, dass wir etwas falsch machen. Zweifelhafte Forderungen ablehnen ist unser gutes Recht. Wir vertreten unsere Interessen, dafür sollten wir uns nicht entschuldigen. Formulierungen wie „tut mir leid“, „sorry“, „leider“ etc. sind daher fehl am Platz und nehmen der Ablehnung die nötige Selbstverständlichkeit.
5. Begründungs-Debatten vermeiden
„Kannst du nicht wann anders deine Eltern besuchen?“ „Lässt sich der Arzttermin nicht verschieben?“„Können deine Eltern nicht die Kinder abholen und darauf aufpassen?“ Hartnäckige Forderer suchen genau solche Debatten. Wenn wir unsere Ablehnung begründen, dann laden wir zur Debatte ein. Ein berechtigtes Nein braucht keine Begründung. Es ist nicht in unserem Interesse zu diskutieren, warum etwas nicht geht.
Im Übrigen können wir sehr wertschätzend sein und gleichzeitig klar „nein“ sagen. Ein Beispiel: „Ich weiß es zu schätzen, dass du mich fragst. Das hört sich nach einem wundervollen Vorhaben für dich an. Ich will ganz ehrlich zu dir sein: Diesmal bin ich definitiv nicht mit dabei. Ich möchte mich um ein paar zentrale private Themen kümmern.“ Bei dieser Aussage ist ein klares Nein kombiniert mit Wertschätzung und dem positiv besetzten Ziel „ganz ehrlich“ zu sein. Die Betonung des Wortes „privat“ setzt außerdem eine Grenze, dass wir darüber nicht weiter reden, weil das Thema eben privat ist.
Weitere Gedanken zum Setzen von Grenzen zeigt der folgende Schaukasten.
Wenn ich jemandem wirksam eine Grenze setzen will, was sollte ich tun?
Unsere Interessen und auch die anderer Menschen zusammenzubringen – das gehört zum Leben. Je mehr wir mit Menschen zu tun haben, desto öfter geht es auch darum, Grenzen zu ziehen. Mir ist immer wichtig, dass ich nicht einfach ja oder nein sage, sondern bei größeren Themen klare Kriterien aufstelle, damit ich ja sage. Oft sage ich dann auch ja, aber es gibt Spielregeln, so dass ich mit dem Ja glücklich bin. Ein Ja kann also auch klare Grenzen ziehen und Anforderungen definieren. Ein Beispiel: Jemand möchte eine Bachelorarbeit bei mir schreiben. Dann kann ich sagen: „Theoretisch ja, das ginge. Eine Bachelorarbeit bei mir sieht allerdings so und so aus, hat die Anforderungen xyz. Kommen sie zum nächsten Treffen mit meinen Studierenden deren Arbeiten ich gerade betreue und sagen mir dann die Tage danach Bescheid, ob das so für sie in Frage kommt.“ Manche sagen dann selber nicht mehr ja, mit anderen komme ich bei den Interessen zusammen.
Wir müssen also nicht immer nein sagen, wenn wir unsere Interessen schützen wollen. Es kann auch ein Ja mit klaren Bedingungen sein. Und wir sollten auch oft ja sagen – und zwar zu Menschen, die ebenfalls ja zu uns sagen, die „win /win“ denken, den Kuchen für uns beide größer machen wollen.
Mein persönliches Prinzip ist, dass ich für jede Art der Zusammenarbeit „win / win“ anstrebe. Wenn nur die andere Seite profitiert, ist es für mich wenig sinnvoll. Wenn nur ich davon profitiere, dann ist es für die andere Seite nicht sinnvoll – und damit auch für eine langfristige Beziehung schlecht. Aus meiner Sicht ist es daher wichtig, Interessen von Beginn an klar anzusprechen – und ggf. mit gutem Gefühl nein zu sagen, weil es für eine der Seiten keinen Sinn macht. Persönlich habe ich beste Erfahrungen damit gemacht, mitunter auch Anfragen von Kunden abzulehnen mit dem Hinweis darauf, dass ich keinen ausreichenden Vorteil der Kunden im geplanten Projekt sehe. Nicht immer, aber oft kamen dann von eben diesen Kunden andere Anfragen und Aufträge. Mein „Nein“ hat die Beziehung gestärkt, nicht geschwächt. Nochmal: Ein Nein aus den richtigen Gründen macht Beziehungen oft stärker.
Manchmal geht es natürlich auch darum, relativ direkt nein zu sagen. Und vorneweg: Es gibt nicht die eine Art von richtig nein sagen. Warum sollte ich jemandem maximal deutlich nein sagen, wenn die Person es auch sanfter versteht oder es eine sehr wichtige Person in meinem Leben ist? Es geht also darum, sich auf sein Gegenüber sozial kompetent einzustellen. Ich habe in meinem Leben auch schon sehr einflussreichen und mächtigen Personen nein gesagt. Das kann ich gut, weil ich meine Interessen relativ genau kenne.
Teilweise begegnen wir Menschen, für die ein normal und sozial kompetent formuliertes Nein nicht funktioniert. Vielleicht sind sie auch hoch manipulativ und Selbstdarsteller mit narzisstischen Zügen. Es ist dann Zeit für härtere Ablehnung, damit die Botschaft ankommt. Körpersprache ist hier enorm wichtig, um unseren Standpunkt zu transportieren. Negativ sind hier alle Unsicherheitssignale wie beispielsweise das Vermeiden von Blickkontakt, unsicheres Herumrutschen auf unserem Stuhl, unsicherer Stand, Zurückweichen mit dem Oberkörper oder das Schützen des Bauches mit den Armen. Ein schulterbreiter Stand und fester Blickkontakt können unser Nein gut unterstreichen. Zudem schließe ich nach der Aussage den Mund. Das zeigt: Es gibt keine Diskussion mehr darüber. So sieht das Gegenüber, dass wir fest in unserer Ablehnung sind. Ich würde dabei bis auf ganz harte Fälle immer freundlich bleiben und eine offene Körpersprache behalten. Es geht ja meist darum, freundlich nein zu sagen. Wir wollen damit nicht andere verletzen, sondern unsere Prioritäten schützen. Arme verschränken, Augen zusammenkneifen oder sich wegdrehen… das ist daher zu viel der ablehnenden Körpersprache.
Wenn ich ablehne, dann mache ich keine langen Begründungen. Doch ich begründe kurz und klar, weil ich glaube, dass es gegenseitige Klarheit schafft. Andere Menschen sollen mich besser verstehen, damit sie besser mit mir umgehen können. Das kann dann beispielsweise so aussehen: „Der Termin klappt nicht, weil ich meiner Tochter versprochen habe an dem Tag mit ihr ihren Geburtstag zu feiern.“ oder „Die Tätigkeit kommt für mich nicht in Frage. Wenn ich etwas mache, dann will ich darin kompetent sein und dahinter stehen. Das ist hier nicht der Fall. Ich bin x und kompetent in y. Dafür immer gerne.“ oder „Das Projekt nehmen wir nicht an, weil wir glauben, dass jemand anderes diesen Bedarf zu einem besseren Preis liefern kann.“ oder „Aktuell nehme ich keine weiteren Abschlussarbeiten an, weil ich eine sehr umfangreiche neue Veranstaltung für nächstes Semester gut vorbereiten will. Ich habe bereits ein paar anderen abgesagt und möchte da gerecht sein. Ich habe mitbekommen, Kollegin xy ist in dem Thema fachlich stark und nimmt noch Abschlussarbeiten an.“ Dabei versuche ich immer sehr wertschätzend zu sein, spreche auch die Interessen meines Gegenübers an und danke dafür, dass andere mich fragen. Oft erwähne ich zusätzlich Möglichkeiten, wie die Personen gut an ihr Ziel kommen, ohne mich zu brauchen.
Nochmal kurz zusammengefasst: Lebst Du für Deinen eigenen Traum oder für den anderer? Das entscheidest nur Du selbst. Dafür ist es wichtig, Deine Grenzen zu schützen und gelegentlich souverän nein zu sagen.
Wir haben die Überflutung mit fremden Zielen gestoppt, indem wir klare Grenzen setzen. Unsere Lebens-Vision sagt uns, was das Richtige ist, in welche Richtung es geht. Um jetzt erfolgreich in diese Richtung zu gehen, ist noch eine andere Art von Zielen wichtig: konkret, messbar, mit festen Terminen versehen. Darum geht es im nächsten Kapitel.