Für viele hört sich die Selbsterfüllende Prophezeiung und Forschung dazu unglaublich an: Unsere Erwartungen an uns selbst und andere Menschen, unsere Annahmen und Vorurteile, unsere inneren Bilder werden zur Realität (Rosenthal und Babad, 1985; Eden, 1990). Dieses Phänomen der Psychologie wurde mit vielen Begriffen bezeichnet als Rosenthal-Effekt, Pygmalion-Effekt oder auch Sich-selbsterfüllende-Prophezeiung. Wie bitte? Ein Mitarbeiter kann mehr, nur weil man es von ihm erwartet? Ein Kind entwickelt sich besser, weil seine Eltern an es „glauben“? Werden wir dann womöglich auch zum Millionär, nur weil wir feste daran glauben? Wie soll das konkret funktionieren? Dazu dieses Kapitel.
Es beschreibt Beispiele für Selbsterfüllende Prophezeiungen und erklärt die Theorie dahinter. Es diskutiert welche Erwartungen an den Effekt tatsächlich realistisch sind, stellt ein klassisches Experiment dar und liefert uns die entscheidenden Tipps, wie wir dieses Phänomen für uns nutzen.
Autor: Diplompsychologe Professor Dr. Florian Becker
Wenn wir uns der Macht unserer inneren Vorstellungen und Erwartungen nicht bewusst sind, dann zahlen wir einen hohen Preis dafür: Wir gehen mit einem negativen Bild von uns selbst durch das Leben und sorgen so unbewusst dafür, dass genau dieses negative Bild zur traurigen Realität wird. Wir schaden den liebsten Menschen in unserer Umgebung, indem wir sie genau zu dem Schlechten machen, was wir in ihnen befürchten. Wir wecken unbeabsichtigt negative Reaktionen in unserem sozialen Umfeld, die uns dann zu etwas formen, was andere Menschen in uns befürchten.
In diesem Beitrag:
Selbsterfüllende Prophezeiung: Definition
Was versteht man unter Selbsterfüllende Prophezeiung? Johann Wolfgang von Goethe sagte: „Wenn wir die Menschen nur nehmen, wie sie sind, dann machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, dann bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“ Hat er damit recht? Und gilt das auch für den Umgang mit uns selbst? Das klärt dieses Kapitel. Los geht es mit einer Definition.
Menschen haben mentale Konzepte und Vorstellungen über sich selbst, andere Personen (Alltagspsychologie) oder die Welt. Aus diesen Vorstellungen leiten Menschen Erwartungen über die Zukunft ab und verhalten sich entsprechend. Und mit ihrem eigenen Verhalten sorgen diese Menschen dann mitunter dafür, dass ihre Erwartungen über die Wirklichkeit tatsächlich real werden.
Ein Beispiel: Zahlreiche Menschen haben die Überzeugung entwickelt, dass eine eigentlich finanziell gesunde Bank bald insolvent sein wird. Also stürmen sie die Filialen und heben ihr Erspartes ab – ein „bank run“. Durch dieses Verhalten der Kunden wird die Bank tatsächlich zahlungsunfähig. Solche Mechanismen nennt man Selbsterfüllende Prophezeiung.
Es gilt folgende Definition:
Die folgenden Abschnitte zeigen Beispiele, dass diese Definition in verschiedenen Bereichen gilt.
Selbsterfüllende Prophezeiung: Beispiele
Für die Sich-selbsterfüllende-Prophezeiung gibt es viele Beispiele:
- Placebo-Effekt. Der Glaube an die Wirksamkeit einer (vermeintlichen) Medizin führt dazu, dass tatsächlich eine Besserung eintritt. Jemand nimmt eine objektiv völlig wirkungslose Tablette und die Kopfschmerzen sind weg – einfach, weil die Person glaubt, dass die Tablette wirksam ist. Das ist das vermutlich bekannteste Beispiel für eine sich selbsterfüllende Prophezeiung.
- Nocebo-Effekt. So nennt sich der weniger bekannte „dunkle“ Zwillingsbruder des Placebo-Effekts. Hier führt die falsche oder übertriebene Überzeugung, dass etwas schädlich ist oder bestimmte Nebenwirkungen hat, dann tatsächlich zu diesen negativen Wirkungen. Eine interessante Auswirkung dieses Beispiels für eine Selbsterfüllende Prophezeiung ergibt sich aus dem in asiatischen Kulturen verbreiteten Aberglauben, die Zahl vier bringe Unglück. Dieser hat seinen Ursprung darin, dass sich das Wort für die Zahl „vier“ auf Mandarin anhört wie das Wort für „Tod“. Die tiefe Überzeugung, dass die Vier eine Unglückszahl sei, führt dann offenbar dazu, dass asiatisch-stämmige US-Amerikaner tatsächlich statistisch gehäuft am Vierten eines Monats versterben (Phillips et al., 2001). Der Aberglaube wird zur bitteren Realität.
- Prüfungsangst. Ein typisches Beispiel für die Selbsterfüllende Prophezeiung ist auch übertriebene Prüfungsangst aus der verzerrten Annahme, dass man scheitern wird. Diese Angst führt dann zu hohem Stress und zu großer Nervosität bei der Prüfung – und daraus ergibt sich dann tatsächlich eine schlechte Prüfungsleistung.
- Marktdynamik. Auch das Wirtschaftsleben ist voll von Effekten der Sich-selbsterfüllenden-Prophezeiung. Menschen glauben, dass eine Aktie steigen wird, kaufen sie – sie steigt in der Konsequenz tatsächlich. Menschen glauben, dass Toilettenpapier knapp wird, kaufen ein und horten – es wird wirklich ein knappes Gut. Menschen glauben, dass sich die Wirtschaft abkühlt, investieren nicht mehr, stellen keine Mitarbeiter mehr ein – die Wirtschaft schrumpft in der Folge dann tatsächlich wie erwartet.
Es gibt also viele Formen der Sich-selbsterfüllenden-Prophezeiung. Unsere Annahmen sind sehr mächtig, denn wir machen sie ganz unbewusst oft zur Realität. Häufig betrifft die Prophezeiung dabei auch Annahmen über uns selbst.
Glaubenssätze als Selbsterfüllende Prophezeiungen
Bei den Annahmen, die sich als Selbsterfüllende Prophezeiung auswirken, muss es nicht um andere Menschen gehen. Die Prophezeiung kann auch uns selbst betreffen. Alle Menschen tragen tief in sich fest verwurzelte Glaubenssätze, Annahmen über sich selbst und die Welt. Das können Annahmen sein wie: „Ich bin nicht liebenswert. Andere werden mich ablehnen.“ Die selbsterfüllende Dynamik kann vereinfacht ausgedrückt so aussehen: Wer glaubt, andere werden ihn ablehnen, verhält sich sozial introvertiert und defensiv, geht nicht auf andere zu. Dadurch bekommt die Person tatsächlich wenig Kontakt mit anderen, entwickelt kaum soziale Kompetenz und kein Selbstvertrauen. Ja, sie fällt anderen oft gar nicht auf. Schließlich ist diese Person tatsächlich nicht gut sozial integriert und scheinbar von der Gesellschaft „abgelehnt“. Die Person nimmt dieses Ergebnis wahr und fühlt sich in ihrem Glaubenssatz bestätigt „Andere lehnen mich ab. Ich bin eben nicht liebenswert.“ Das zeigt deutlich, warum die Selbsterfüllende Prophezeiung für die Positive Psychologie so entscheidend ist.
Eine Selbsterfüllende Prophezeiung ist oft als selbstverstärkender Kreislauf aufgebaut.
Die Abbildung zeigt so einen Kreislauf:
- Eine Person hat Annahmen über sich und die Welt. Beispielsweise glaubt diese Person: „Über 50 findet man keinen Job. Ich kann gleich aufgeben.“
- Diese Annahmen beeinflussen unser Verhalten und Entscheidungen. Wir bewerben uns dann nur halbherzig und treten, wenn wir überhaupt eingeladen werden, zu einem Vorstellungstermin nicht sehr selbstbewusst und eher pessimistisch auf.
- Das produziert die erwarteten, schlechten Ergebnisse. Wir „finden“ tatsächlich keinen Arbeitsplatz. Die Prophezeiung ist jetzt eingetreten.
Die Person nimmt die Ergebnisse wahr und interpretiert sie wieder im Sinne ihres Weltbildes: „Habe ich es doch gewusst. Über 50 findet man keinen Job. Ich hätte mir den Aufwand gleich sparen können!“ Der negative Kreislauf ist geschlossen und zieht die Person weiter in seinen Strudel. Negative Glaubenssätze führen daher oft unbewusst zu einer Selbstsabotage.
Umgekehrt gibt es auch eine Menge positiver Glaubenssätze, die uns im Leben unterstützen. Wer etwa glaubt „Ich bin ein liebenswerter Mensch. Andere werden mich mögen!“, der profitiert von einer positiven Spirale der Selbsterfüllenden Prophezeiung.
Der Schaukasten zeigt Beispiele für verbreitete psychologische Glaubenssätze.
- Die Welt ist gefährlich. Ich darf keine Risiken eingehen, sonst passiert etwas Schlimmes.
- Menschen darf man nie trauen. Sie werden mich irgendwann hintergehen.
- Andere sind zuständig für mein Glück / Unglück. Ich selbst habe keinen Einfluss.
- Ob ich gut oder schlecht in der Schule bin – das liegt an der Gesellschaft und meinem Elternhaus. Es ist nicht meine Verantwortung.
- Ich bin alleine zuständig und verantwortlich, dass andere Menschen (meine Eltern, Partnerin, Kinder, Freunde etc.) glücklich sind. Sie haben keinen Einfluss auf ihr eigenes Glück.
- Wenn ich Spaß habe und mir etwas gönne, dann bin ich egoistisch. Andere hassen mich dann.
- Wenn ich meine Gefühle zeige, dann lehnen mich Menschen ab. Ich darf keine Gefühle haben.
- Frauen/Männer sind böse und berechnend. Sie wollen nur das Eine von mir.
- Wenn ich besser als die anderen bin, dann hassen sie mich. Ich darf nicht erfolgreich sein.
- Wer viel Geld hat, ist ein schlechter Mensch. Er hat es anderen weggenommen.
- Mädchen sind schlecht in Mathe. Ich sollte etwas anderes machen.
- Ein Mann muss kämpfen. Ich muss mich jedem Gegner stellen, sonst bin ich kein Mann!
- Männer müssen es alleine schaffen. Ich darf nicht nach Hilfe fragen.
- Wer nichts leistet, der ist nichts wert. Ich muss die/der Beste sein.
- Ich habe Sommersprossen, ich bin hässlich.
Solche negativ geprägten Glaubenssätze führen zu schlechten Entscheidungen. Zahlreiche davon können Teufelskreise bilden, die sich selbst verstärken, unser Glück und unseren Erfolg im Leben verhindern. Die Beispiele zeigen noch einmal sehr deutlich, warum eine pessimistische Weltsicht so große Nachteile für uns hat.
Oft stammen unsere Glaubenssätze aus der Kindheit, dem Elternhaus, der umgebenden Kultur, sind uns unbewusst. Sie entfalten dann eine sehr hässliche Dynamik im Erwachsenenleben, sabotieren Erfolg auf subtile Weise. Wir haben es dann mit Menschen zu tun, die immer wieder aus „unerfindlichen“ Gründen mit ihren Zielen scheitern. Hier ein Beispiel: Ein Kind hat sehr impulsive und emotional instabile Eltern, die bei geringen Anlässen ausrasten, schreien und es schlagen. Ein unbewusster, tief verankerter Glaubenssatz entsteht: „Wenn ich etwas falsch mache, dann passiert etwas Schreckliches. Ich darf nur machen, was ich ganz, ganz sicher kann.“ Das Ergebnis ist ein erwachsener Mensch, der sich nicht aus seiner Komfortzone traut, zwanghaft perfektionistisch ist, sich permanent mit Risiken befasst und weit hinter seinem Entwicklungspotenzial zurückbleibt. Wenn diese Person dann doch einmal etwas Neues wagt, dann wird sie sehr ängstlich und unsicher sein – und mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern. Das festigt wieder ihren Glaubenssatz „Ich darf eben nur machen, was ich ganz, ganz sicher kann.“ Der Teufelskreis der Selbstsabotage ist gefestigt.
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von Diplompsychologe Prof. Dr. Florian Becker
Wir haben jetzt die Bedeutung unserer Annahmen über uns selbst diskutiert und wie sie zur Realität werden. Aber was ist mit den Annahmen anderer Menschen über uns? Und was ist mit unseren Annahmen über andere Menschen, die Goethe in seinem Zitat anspricht? Auch was andere in unserem Umfeld über uns glauben, entscheidet unsere Zukunft. Und auch wir prägen mit unseren Annahmen die Zukunft anderer Personen. Der nächste Abschnitt beschreibt ein klassisches Experiment dazu.
Rosenthal Effekt: Experiment
Psychologische Forschung rund um das Thema Selbsterfüllende Prophezeiung gibt es bereits seit langem. Wie hat alles angefangen? Das Experiment in einer Grundschule von Rosenthal und Jacobson ist die klassische Studie zur Selbsterfüllenden Prophezeiung und hat breites Interesse am Thema geweckt. Aus diesem Experiment ist der Begriff Rosenthal Effekt entstanden, der ein Beispiel für eine Selbsterfüllende Prophezeiung ist.
Rosenthal und Jacobson kamen als wissenschaftliches Forschungsteam in eine Grundschule und führten umfangreiche Tests mit den Kindern durch. Anschließend informierten sie die Lehrer zu Beginn des Schuljahres bewusst falsch zu 65 zufällig ausgewählten Schülern. Diese hätten in einem Begabungstest der Harvard Universität gut abgeschnitten und wären sozusagen verborgene Talente („growth spurters“). Es sei zukünftig bei diesen Kindern mit Leistungssteigerungen zu rechnen. Mit diesem Vorgehen erzeugten die Wissenschaftler künstlich bestimmte verzerrte Annahmen bei den Lehrern über das Leistungsvermögen ihrer Schüler.
Tatsächlich hatten die Wissenschaftler alle Kinder der Grundschule getestet – aber nicht auf verborgene Talente, sondern auf logische und verbale Kompetenzen.
In der Folge untersuchten die Forscher, ob es nach einem Jahr zu tatsächlichen Unterschieden in der Leistungsfähigkeit der 65 zufällig ausgewählten Kinder im Vergleich mit ihren Klassenkameraden (Kontrollgruppe 255 Personen) kam. Die Schulnoten der Versuchsgruppe waren in der Tat besser – aber das könnte auch einfach daran liegen, dass die Lehrer wohlwollender bewerten, wenn sie Kinder für begabt halten. Daher benutzten die Wissenschaftler nochmals die eigenen validen und objektiven Leistungstests zu logischen und zu verbalen Kompetenzen. Und tatsächlich: In ihrer Publikation berichten die Autoren von signifikanten Unterschieden in der Verbesserung der Leistungsfähigkeit nach einem Jahr zu Gunsten der Versuchsgruppe. Dafür verglichen sie einfach für jedes Kind in der Schule die Werte aus der ersten Testung mit den Werten aus der zweiten Testung.
Die Psychologen führen die verstärkte Verbesserung gegenüber den anderen Schülern auf die experimentell manipulierten Erwartungen der Lehrer zurück: Lehrer, die erwarten, dass bestimmte Schüler gut sind, „machen“ diese Schüler auch tatsächlich gut – objektiv gut, gemessen von dritten Personen mit validierten Tests. Eine Selbsterfüllende Prophezeiung tritt ein.
Interessant ist auch, dass Mädchen in der Versuchsgruppe vor allem im Bereich Logik profitierten, Jungen vor allem im Bereich der verbalen Kompetenzen. Es könnte sein, dass durch die veränderten Erwartungen der Lehrkräfte (Das Kind ist ein Talent!) soziale Stereotype aufgebrochen und überwunden wurden. Lehrer bekamen einen neuen Blickwinkel, die zuvor geglaubt hatten: „Das ist ein Junge, der ist nicht gut in Sprachen!“ oder „Ein Mädchen… das wird nix mit Mathe.“ Und auch die Kinder selbst bekamen möglicherweise neue Annahmen über sich selbst: „Ich bin ein Mädchen, das gut in Mathe ist. Ich mag Mathe!“
Dazu passt auch, dass Kinder mit Minderheitenstatus (Hispanics) mehr profitierten von den künstlich erzeugten positiven Erwartungen ihrer Lehrer. Konsistent mit der Annahme, dass bestehende soziale Stereotype durch die neuen Annahmen künstlich überschrieben wurden, ist folgende Beobachtung: Der Effekt der Selbsterfüllenden Prophezeiung traf umso stärker zu, je „mexikanischer“ die Kinder aussahen. Es scheint, dass durch das Experiment ein den Lehrern selbst nicht bewusstes, negatives soziales Stereotyp aufgebrochen wurde: „Das Kind ist hispanisch. Es ist schlecht in der Schule.“ Durch die Harvard-Psychologen bekamen die Lehrpersonen eine neue stärkere und positive Erwartungshaltung: „Das Kind ist ein verborgenes Talent.“
Obgleich dieses Experiment mittlerweile methodisch angegriffen wurde (z.B. Raudenbush, 1984), ist es eine klassische Studie, die weitere Forschung zur Sich-selbsterfüllenden-Prophezeiung stimuliert hat. Die zu Grunde liegenden Muster wurden dabei wieder und wieder bestätigt.
Die Bedeutung des Rosenthal Effektes ist extrem weitreichend für Fragen der Bildungsleistung und sozialen Gerechtigkeit. Wie wenige der Lehrer in Deutschland kennen die Macht dieser unbewussten Einflüsse? Wie wenige der Eltern? Und die wenigen, die sich der Effekte bewusst sind: Welche Schlüsse ziehen sie daraus, um Kinder optimal zu fördern? Kennen und nutzen sie effektive Konzepte?
Ein wichtiges Ergebnis weiterer Studien ist, dass der Effekt der Beeinflussung von Erwartungen umso stärker wirkt, je weniger gut sich die beteiligten Personen kennen (Raudenbush, 1984). Das ist logisch, denn wenn sich Personen schon besser kennen, dann sind die gegenseitigen Annahmen bereits relativ gefestigt. Es geht also darum, Annahmen über Menschen relativ früh in die „zweckmäßige“ Richtung zu lenken und zu formen.
Die Wirkmechanismen aus diesem Experiment gelten in sehr vielen Bereichen. Darum geht es im Weiteren. Der nächste Abschnitt vertieft die Theorie zur Sich-selbsterfüllenden-Prophezeiung, wenn es um die Wirkung auf andere Personen geht.
Selbsterfüllende Prophezeiung: Psychologie und Theorie
Wie genau läuft der Prozess einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung in Form des Rosenthal Effektes psychologisch ab? Auch wenn an der Oberfläche sehr unterschiedliche Kontexte betroffen sind: Erwartungen von Eltern an Kinder, Führungskräften an Mitarbeiter, Ärzten an Patienten, Ehepartnern aneinander oder auch Trainern an Sportler usw. Die Schritte in diesem Prozess sind aus Sicht der Psychologie immer die selben:
- Menschenbild der Person A
Person A hat Überzeugungen über Person B entwickelt.
Eine Lehrerin glaubt ein Schüler sei besonders begabt. - Verhalten der Person A
Entsprechend diesen Überzeugungen verhält sich Person A gegenüber Person B.
Die Lehrerin schenkt dem Schüler mehr Aufmerksamkeit, hört mehr zu, schätzt die Meinung, motiviert und ermutigt mehr, fordert Ergebnisse ein, interpretiert die Antworten eher als richtig, lächelt das Kind mehr an, bewertet das Kind wohlwollender.
Das Kind bekommt anspruchsvolle Aufgaben, mit denen es sich schneller entwickelt, mehr Informationen und Kontakt. - Selbstbild und Eigenschaften der Person B
Dieses Verhalten von Person A beeinflusst bei Person B das Selbstbild und die Eigenschaften, häufig in Richtung der Erwartungen von Person A. Mitunter internalisieren Personen das fremde Bild, übernehmen es also und glauben selbst daran.
Der Schüler gewinnt die Überzeugung, dass er kompetent ist. Er ist motiviert. - Verhalten der Person B
Person B verändert ihr Verhalten in Richtung der Überzeugungen von Person A.
Durch mehr Aufmerksamkeit, Übung, Motivation und Selbstvertrauen zeigt der Schüler tatsächlich gute Leistungen.
Und hier schließt sich der Kreis: Person A nimmt das Verhalten wahr und interpretiert es wieder in Richtung ihres Menschenbildes. Ihr Bild über Person B festigt sich. Und so geht es immer weiter. Es handelt sich also um einen sich selbst stabilisierenden Kreislauf, der dazu führt, dass Menschen sich tatsächlich in die Richtung entwickeln, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Das kann in eine positive (Engelskreis) oder in eine negative Richtung (Teufelskreis) gehen.
Das Wort „schuld“ ist in diesem Kontext sehr ungeeignet, wertend, unterstellt bewusste Absichten. Reden wir daher von Einfluss. Bildungserfolg ist ein sehr komplexes Thema. Natürlich sind Lehrer, Eltern und ihre Menschenbilder nicht der einzige Einfluss auf Bildungserfolg. Man kann sich das so vorstellen, dass viele unsichtbare Kräfte auf Kinder wirken. Das richtige Menschenbild verbessert die Chancen von Kindern. Es kann immer noch sein, dass sie dennoch keine guten Leistungen im Bildungssystem zeigen. Das ist allerdings weniger wahrscheinlich. Es wird auch immer Kinder geben, die trotz negativer Menschenbilder in ihrem Umfeld Erfolg haben, resilient sind. Nur: Wie erfolgreich könnten sie dann erst sein, wenn es günstige Annahmen über sie bei Lehrern und Eltern gibt?
Menschenbilder sind also ein wichtiger Einfluss, da sie dazu neigen selbsterfüllende Prophezeiungen zu sein. Aber sie sind nicht der einzige Einfluss. Nehmen wir ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich, um das zu verdeutlichen: Mehr als 90 % der Menschen mit Diabetes Typ 2 haben Übergewicht. Das bedeutet aber auch nicht, dass die Ursache für Diabetes Typ 2 immer Übergewicht war und dass jeder mit Übergewicht Diabetes Typ 2 bekommen wird.
Unsere Annahmen über Kinder sind ein Einfluss unter vielen auf ihren Erfolg im Leben – doch es ist eine wichtige Kraft, die wir nicht weiter derart ignorieren dürfen. Die Daten sind da. Seit über 50 Jahren!
Diese Effekte der Selbsterfüllenden Prophezeiung hat man unter anderem gefunden bei Schulkindern, Patienten, Mitarbeitern, Sportlern – und sogar bei Liebesbeziehungen (Downey et al., 1998; Eden, 1990). Das psychologische Phänomen wirkt offenbar robust und bereichsübergreifend. Wir können es so zusammenfassen: „Du bekommst, was du erwartest!“ Und sei es mehr Innovationen von Mitarbeitern, wenn man sie nur für kreativ hält (Tierney und Farmer, 2004).
Die Theorie ist soweit klar, es folgen Praxis und Beispiele.
Rosenthal-Effekt als Beispiel für Selbsterfüllende Prophezeiung
Auch anhand der Eltern-Kind Beziehung kann man den Rosenthal-Effekt gut am Beispiel darstellen.
Ein perfekter Teufelskreis ist entstanden. Er führt dazu, dass der Sohn tatsächlich wenig Begabung und Selbständigkeit entwickelt und sich immer mehr in diese ungünstige Richtung bewegt.
Eine andere Mutter hat eine ganz gegensätzliche Überzeugung zu ihrem Sohn entwickelt. Sie hält ihn für selbständig, lernfähig und kompetent. Ihr Verhalten spiegelt das: Der Sohn darf viel selbst entscheiden, bekommt Taschengeld zur Verfügung, darf selber einkaufen gehen und sich in der Stadt bewegen. Sie überträgt ihm Verantwortung und anspruchsvolle Aufgaben, an denen ihr Kind wächst. Ihr Sohn spürt diese Einstellung und das Vertrauen seiner Mutter in ihn, macht positive Erfahrungen, gewinnt Selbstvertrauen und Kompetenz. Er will die positive Erwartung seiner Mutter nicht enttäuschen. Das spiegelt sich in seinem Verhalten: Er ist extrem selbständig im Vergleich mit anderen Kindern in seinem Alter, löst anspruchsvolle Aufgaben zuverlässig und souverän. Die Mutter beobachtet das – und ihr positives Bild von ihrem Sohn festigt sich.
Ein Engelskreis mit seiner positiven Dynamik ist aus den ursprünglichen positiven Überzeugungen der Mutter entstanden.
Die beiden Beispiele machen klar: Selbsterfüllende Prophezeiungen sind so mächtig wie ein kleiner Schneeball, aus dem eine ganze Lawine wird. Unsere Prophezeiungen lösen zirkuläre Dynamiken aus, die sich selbst verstärken. Wir bekommen das, was wir von Menschen erwarten.
Diese Beispiele für Selbsterfüllende Prophezeiungen lassen sich ohne weiteres auf die Führung von Mitarbeitern übertragen. Es ist klar, worauf es hinausläuft, wenn eine Führungskraft die Überzeugung entwickelt hat: „Meine Mitarbeiter sind unfähige Idioten. Man sollte mir Schmerzensgeld zahlen, damit ich ihnen beim Arbeiten zusehe. Lieber mache ich es selbst, dann habe ich am Ende weniger Arbeit und es ist ordentlich gemacht!“ Diese Führungskraft wird schließlich alle ihre Mitarbeiter tatsächlich zu eben jenen unselbständigen Idioten entwickelt haben, die sie in ihnen sieht – nicht zuletzt auch deshalb, weil die kompetenteren Mitarbeiter gegangen sind.
Die selbsterfüllende Prophezeiung zeigt, wie bedeutsam der Blickwinkel ist, mit dem wir Menschen wahrnehmen. Mit unsichtbaren Seilen zieht sie die Realität in die Richtung unserer Annahmen. Das gilt auch für den Blickwinkel auf uns selbst. Die folgende Übung beschreibt, wie wir an unserer Sprache ansetzen können, um den Blick auf uns selbst positiv zu verändern.
- Benutzt Du sehr viele „Weichmacher“ wie: irgendwie, ziemlich, vielleicht, eigentlich, glaube ich, denke ich, könnte… ? Dann sagst Du anderen – und noch schlimmer Dir selbst – damit permanent: „Ich bin nicht verlässlich und kompetent. Ich bin mir nicht sicher. Auf meine Aussagen und auf mich ist kein Verlass.“
Ein Beispiel: „Eigentlich würde ich gerne mehr Sport machen.“ Ach wirklich? Das glaubst Du Dir selber nicht. Anstatt zu sagen „Könntest du das vielleicht noch einmal überdenken?“ nutze Botschaften wie: „Bitte überdenke das nochmal gründlich!“ - Achte auch auf das Wort „nur“. „Ich wollte ja nur mal fragen …“ „Ich meine ja nur …“ Hallo. Das Wort „nur“ reduziert Deine Aussage. Als kompetenter und souveräner Mensch gibst Du besser klare Ansagen: „Ich möchte wissen, …“ oder „Ich bin überzeugt, dass …“.
- Auch die Formulierung „ich würde“ ist ein Indikator, dass Du wenig von Dir selbst hältst. Damit legst Du Dich nicht fest, bist nicht greifbar. Statt „Ich würde vorschlagen…“ sagst Du „Ich habe einen Vorschlag: …“ oder „Meine Meinung zu dem Thema ist …“.
- Reduziere auch das Wort „müssen“. Selbstbestimmte Menschen müssen nicht. Kinder mit strengen Eltern müssen. Nutze auch nicht als Ersatz „dürfen“ oder „sollen“. Kinder mit netten Eltern dürfen. Du bist aber immer noch in der Kinderrolle mit so einer Formulierung. Sage stattdessen „ich konnte“. Ein Beispiel aus der Praxis. Angela Merkel sagt in einem alten Video damals als Umweltministerin: „Woran ich mich besonders gewöhnen musste in dem Jahr, das ist die Arbeit als Ministerin in einer obersten Bundesbehörde. Hier habe ich vor allem vieles an Verwaltungstechniken kennenlernen müssen. Und ich habe auch erleben müssen, wie schwierig es ist, andauernd im Licht der Öffentlichkeit zu stehen.“ Stell Dir vor, sie hätte gesagt: „Ich konnte schon vieles bewegen in diesem Jahr als neue Umweltministerin. Es gibt viel zu tun und ich konnte als Mensch mit den Herausforderungen wachsen. Wir haben hier in meinem Ministerium einiges erreicht. Und ich habe noch viel mehr vor.“ Eine ganz andere Wirkung, oder? Auch andere Menschen wollen nichts „müssen“ – weder Deine Mitarbeiter, noch Deine Kunden, noch Deine Kinder, noch Deine Partnerin oder Dein Partner. Nutze das Wort daher sparsam.
- Wenn Du von Dir viel in der passiv-Form sprichst, dann ist es ebenfalls ein Hinweis, dass Du wenig von Dir hältst. Passiv ist schwach, es passiert etwas mit Dir. Du solltest aktiv sein, die Situation bestimmen. Entsprechend nutzt Du aktive Formulierungen. Statt „Ich wurde dann von meinem Unternehmen drei Jahre nach China gesandt.“ sage: „Ich bin dann für die Firma drei Jahre nach China gegangen.“ Was für ein Unterschied.
Fazit: Mit unserer Sprache programmieren wir uns selbst und unser Umfeld. Jeden Tag. Immer wenn wir sprechen. Ganz unbewusst. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir solche Formulierungen überhaupt nicht mehr verwenden sollten. Wir sollten sie mit Bedacht einsetzen. Ja, es gibt Situationen, in denen auch diese Formulierungen ihre Berechtigung haben. Doch in mehr als 90 Prozent der Fälle schaden wir uns mit diesen Formulierungen und Worten. Wir setzen die Macht der Worte immer ein – allerdings oft gegen uns und ohne, dass wir es merken. Deshalb: Erlaube nicht, dass Deine Art zu reden, Dein Denken über Dich selbst korrumpiert. Erlaube nicht, dass Deine Worte das Bild, dass Deine Mitmenschen von Dir haben, in eine ganz ungünstige Richtung lenken.
Damit kannst Du noch heute anfangen: einen ganzen Tag lang. Achte darauf, wie Du zu anderen sprichst – insbesondere, wenn Du von Dir sprichst. Und verändere die nächste Zeit Deine Gewohnheiten im Sprechen.
Im letzten Abschnitt geht es nochmals zugespitzt um die Frage, welche Tipps für die Praxis sich aus der Selbsterfüllenden Prophezeiung ergeben.
Selbsterfüllende Prophezeiung: Tipps
Wie können wir die Selbsterfüllende Prophezeiung in der Praxis für uns nutzen? Dazu die folgenden Tipps. Dieser Abschnitt klärt auch, ob Goethe mit seiner Aussage oben recht hat.
Wir werden zu dem, was wir über uns denken. Ein wesentlicher Aspekt, vielleicht der wichtigste, sind unsere Annahmen über uns selbst. Wer – in gesundem Maße – glaubt „Ich kann das, ich bin den Herausforderungen gewachsen!“ entwickelt sich besser als jemand, der über sich selbst befürchtet, nichts zu können und nichts zu schaffen. Resultat ist dann eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung und diese hat sehr positive Auswirkungen für uns: eine höhere Ausdauer beim Verfolgen unserer Ziele und erhöhte Anstrengung bei Misserfolg, anstatt einfach aufzugeben (vgl. z.B. Stajkovic und Luthans, 1998).
Deshalb geht es darum, uns von den vielen negativen Glaubenssätzen zu befreien, die uns wie mentale Gitterstäbe begrenzen und limitieren. Jeder Mensch trägt nicht nur ein positives Paket aus seiner Kindheit mit sich. Um unser Potenzial frei zu entfalten, müssen wir limitierende mentale Barrieren einreißen, unser Denken ändern. In einem Satz ausgedrückt: „Sieh das in Dir, was Du werden willst!“
Wir werden zu dem, was andere in uns sehen. Die Selbsterfüllende Prophezeiung können wir aber nicht nur in Form unserer Überzeugungen gegenüber uns selbst nutzen. Es lohnt sich auch das Bild, das andere von uns haben, von Anfang an in eine günstige Richtung zu formen: die Macht des ersten Eindrucks. Unsere Chancen stehen dann gut, dass unser soziales Umfeld uns ganz unbewusst zu dem Menschen formt, der wir sein wollen. Das Bild, das wir als ersten Eindruck vermittelt haben, wird dann zur Realität, weil unsere Mitmenschen uns in die Richtung dieser geweckten Erwartungen bewegen. In einem Satz ausgedrückt: „Suche und gestalte Dir ein soziales Umfeld, das in Dir bereits das sieht und erwartet, was Du werden willst!“
Wir machen andere zu dem, was wir in ihnen sehen. Mit diesem Vorgehen können wir unsere Mitmenschen positiv entwickeln:
- Am Beginn einer Beziehung sollten wir starten mit einem Menschenbild, das geprägt ist von Vertrauen, Glaube an die Fähigkeiten und Motivation des anderen Menschen (etwa eines Mitarbeiters/Kindes/Partners) und Wertschätzung. Diese innere Haltung spürt unser Gegenüber und wird sich eher in diese Richtung entwickeln.
- Zudem haben wir mit der positiven Ausstrahlung eine bessere Chance, eine gute Beziehung zu diesem Menschen aufzubauen. Andere Personen spüren, was wir von ihnen halten. Das ist eine wichtige Basis für Erziehung, gute Paarbeziehungen, die Mitarbeiterführung und jede andere Form der Zusammenarbeit und des Miteinanders.
- Natürlich dürfen wir nicht blindlings an diesem positiven Start-Bild festhalten, wenn die Person sich deutlich anders verhält. Die Chance für einen guten Start ist es aber wert, einen Vertrauensvorschuss zu geben. Der Trick beim Vertrauensvorschuss ist, dass es eben nur ein Schuss ist – ein kleiner Schuss mehr also, als man eigentlich für angemessen hält.
- Menschenbilder sollten also immer etwas (aber nur etwas) positiver sein, als eigentlich objektiv gerechtfertigt. Behandeln wir also unsere Mitmenschen immer als ein wenig kompetenter, selbständiger, vertrauenswürdiger…, als diese vielleicht tatsächlich sind. So entwickeln sich diese Menschen in die von uns gewünschte Richtung.
In einem Satz: „Versuche in anderen das zu sehen, was Du in ihnen entwickeln willst!“
Fazit: Hat Goethe jetzt also recht mit seiner oben zitierten Aussage? Einerseits ja. Gerade wenn wir eher pessimistische Annahmen über uns oder unsere Mitmenschen haben, besteht die Gefahr einer negativen Sich-selbsterfüllenden-Prophezeiung. Wir und andere entwickeln sich dann genau in die Richtung, die wir befürchten. Umgekehrt hat es offenbar positive Auswirkungen, wenn wir Menschen leicht positiv verzerrt sehen. Optimismus lohnt sich also auch hier. Es gibt aber eine wichtige Ergänzung zu Goethes Aussage:
Wir sollten andere und uns selbst immer nur einen Schuss mehr in die Richtung sehen, in der wir sie gerne hätten.
Der Trick ist der kleine Schuss. Übertreibung ist schädlich. Es nutzt nichts, andere oder uns selbst als künftige „Nobelpreisträger“ oder „Superwoman“ zu sehen. Eine überzogene Erwartung bei anderen Menschen zu wecken ist ebenfalls keine gute Idee. Wir können dann nur enttäuschen.
Die Selbsterfüllende Prophezeiung zeigt uns die Macht unserer inneren Bilder. Vermutlich das wichtigste Menschen-Bild, das wir in uns haben, ist das Bild von uns selbst. Es geht daher weiter mit einem Kapitel zur Selbstwirksamkeit: Für wie handlungsfähig und kompetent halten wir uns selbst?