Wer Erfolg will, braucht Disziplin. Daher gilt: Die wichtigsten Grenzen, die wir in unserem Leben setzen, sind die gegenüber uns selbst. Die Regeln, die wir uns geben. Das Nein, das wir an bestimmten Punkten sagen – zu uns selbst. Diese Tugend hilft uns, den inneren Schweinehund zu besiegen, der sich zwischen uns und unsere Lebensziele stellt. Selbstdisziplin hilft uns, immer genau das zu tun, von dem wir wissen, dass es gut ist… auch wenn es uns gerade schwerfällt. Gesundheit, Karriere, gute Beziehungen, unser Aussehen und Vermögen – all das hängt an Selbstkontrolle, zeigen Forschungsergebnisse der Psychologie. Es gibt gute Nachrichten: Wir können Selbstdisziplin lernen. Und es ist gar nicht so schwer, wenn wir erstmal wissen wie. Der Beitrag zeigt die Fakten dazu – und wir lernen die nötige Selbstbeherrschung. …
Autor: Diplompsychologe Professor Dr. Florian Becker
Wenn wir keine Selbstdisziplin haben, dann verkaufen wir unsere Zukunft für den Genuss und die Bequemlichkeit im Augenblick. Wir machen ein schlechtes Geschäft – immer und immer wieder. Das Märchen „Hans im Glück“ ist ein gutes Sinnbild dafür. Hans startet mit einem großen Klumpen Gold. Dieser Klumpen Gold symbolisiert unser Potenzial, das wir erreichen können. Aber Hans tauscht den Klumpen Gold gegen ein Pferd, weil er müde vom Laufen ist. Er tauscht das Pferd gegen eine Kuh, weil er hungrig ist. Das geht so weiter. Am Ende hat er nur noch zwei Steine – und die fallen ihm in den Brunnen, weil er unbedingt trinken will. Er tauscht seine Zukunft gegen den augenblicklichen Genuss – immer und immer wieder. Werden wir den Klumpen Gold nach Hause bringen, der in uns schlummert? Wie viel davon werden wir nach Hause bringen? Das entscheidet unsere Disziplin.
In diesem Beitrag:
Was bedeutet Disziplin? Definition
Disziplin definieren wir im Alltag als Willenskraft und Durchhaltewillen. Teilweise verbinden wir damit auch Einordnung, ja sogar Unterordnung und denken an militärischen Drill. Die Assoziationen zur Bedeutung von Disziplin sind also nicht nur positiv. Was bedeutet Selbstbeherrschung aus Sicht der Forschung? Wie sieht die wissenschaftliche Definition der Disziplin aus? In der Psychologie reden wir von Selbstdisziplin. Hier die Definition:
Synonym mit dieser Definition von Disziplin sind weitgehend die Begriffe Selbstregulation, Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung. Immer dann, wenn in unserem Leben ein Motivkonflikt eintritt, brauchen wir also Selbstdisziplin. Und das passiert sehr oft. Unser Alltag ist voll mit solchen Situationen. Typische Beispiele für Selbstdisziplin zeigt der Schaukasten.
Unser Alltag ist gefüllt mit Beispielen für Selbstdisziplin:
- Eigentlich will ich abnehmen – aber die Lasagne schmeckt so gut… Noch ein Teller?
- Die Mathe-Klausur steht in wenigen Tagen bevor – doch die Sonne scheint und unsere Freunde ziehen los… Sollte ich nicht doch lieber später lernen?
- Diese Woche wollten wir als Pärchen eigentlich jeden Tag nach der Arbeit etwas Bewegung im Grünen und einfach Spazierengehen – blöd, draußen ist das Wetter jetzt aber gar nicht schön.
- Jeden Monat zehn Prozent des Einkommens zurücklegen, um etwas Vermögen aufzubauen, wenn ich es brauche… nur diese tolle Jacke ist gerade jetzt im Sonderangebot.
- Ich habe mir vorgenommen spätestens um 22.30 Uhr im Bett zu sein, damit ich am nächsten Tag nicht mehr so müde bin – es gibt aber gerade so eine spannende Serie auf Netflix…
- Ja, ich weiß, vier Gläser Wein sind schon reichlich. Noch mehr davon und ich werde das am nächsten Tag bereuen – doch so jung sehen wir uns nie wieder und wir haben so einen Spaß gerade…
- Ich habe jemanden frisch kennenglernt, wir wollen Sex haben – nur leider sind gerade keine Kondome zur Hand…
- Unsere Kinder verhalten sich überdreht und extrem provokativ – wir Eltern wissen zwar, dass Anschreien keine gute Idee ist… aber wir haben so Lust dazu…
- Ich soll regelmäßig ein Medikament nehmen, damit mein Körper die Spenderniere akzeptiert – aber es ist so anstrengend, regelmäßig daran zu denken.
All diese Beispiele haben eines gemeinsam: Die „undisziplinierte“ Alternative ist unmittelbar belohnend, schadet aber langfristig – und die „disziplinierte“ Alternative ist unmittelbar nicht belohnend, nutzt aber langfristig. Wir erkennen das zwar rational. Dennoch fällt es uns schwer, dieser besseren Einsicht im Verhalten zu folgen. Dafür brauchen wir Selbstdisziplin.
Es gibt also massig Situationen im modernen Alltag, in denen wir gefordert sind, unsere augenblicklichen Bedürfnisse zurückzustellen, damit wir eine bessere Zukunft haben. Effektivität und Erfolg sind ohne Disziplin nicht möglich. Der chinesische Denker Konfuzius merkte dazu trocken an: „Der reiche Mann denkt an die Zukunft, der arme Mann an die Gegenwart.“ Damit meinte Konfuzius keineswegs nur materiellen Reichtum, er verachtete das alleinige Streben danach. Es geht um Reichtum an Gesundheit, guten Beziehungen, Wissen, Können, privaten und beruflichen Möglichkeiten, Glück und allem anderen, was wir uns aussuchen.
Das moderne Leben konfrontiert uns immer wieder mit oberflächlich sehr unterschiedlichen, doch im Grunde sehr ähnlichen Tests: Wir müssen jetzt in der Gegenwart etwas opfern, damit unsere Zukunft besser ist. Und der innere Schweinehund sagt: „Nein. Ich will das aber jetzt. Sofort. Ich will die drei F: Fressen, Fernsehen und … !“ Vielleicht ist gerade deshalb die Selbstdisziplin etwas, das uns Menschen von Tieren unterscheidet?
In unserer modernen Welt ist Disziplin wichtiger als je zuvor. Das hat vor allem zwei Gründe:
- Unsere Welt ist immer voller mit Verlockungen, Ablenkungen und Versuchungen. Dazu gehören unser Smartphone und der Fernseher genauso wie Fast-Food und allzeit verfügbare Kredite und Konsumprodukte. Damit können viele schwer umgehen. Der durchschnittliche Deutsche verbringt daher über fünf Stunden täglich mit Videos, Fernsehen und Computerspielen (Vaunet, 2023) und mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland sind mittlerweile übergewichtig (Statistisches Bundesamt, 2022).
- Zweitens erfordert Erfolg in einer modernen Industriegesellschaft von uns, dass wir unsere augenblicklichen Bedürfnisse kontrollieren, um langfristige Ziele zu erreichen. Diese Ziele sind mittlerweile so langfristig wie nie zuvor in der menschlichen Geschichte. Das betrifft unsere Bildung, unsere Gesundheit und unsere finanzielle Sicherheit. Wir sollen in der ersten Klasse fleißig lernen, um 13 Jahre später Abitur zu machen und studieren zu können. Wir sollen jetzt Vermögen aufbauen, Geld investieren statt konsumieren, damit wir Jahrzehnte später ein Eigenheim kaufen können oder im Alter versorgt sind. Wir schreiben jahrelang an einem Buch, damit es dann irgendwann fertig in unserer Hand liegt.
Das macht Disziplin zu einer entscheidenden Erfolgskompetenz in einer modernen Gesellschaft. Doch viele Menschen haben kaum Selbstdisziplin.
Weiter geht es mit einem Beispiel für Selbstdisziplin – in diesem Fall für mangelnde Selbstdisziplin.
Beispiel für mangelnde Selbstdisziplin: die Havarie der Costa Concordia
Ein ebenso trauriges wie anschauliches Beispiel für die Auswirkungen mangelnder Selbstdisziplin ist das Schiffsunglück der Costa Concordia.
Was sagt die Wissenschaft zur Bedeutung von Selbstdisziplin?
Warum ist Disziplin wichtig? Vorteile und Nachteile
Hat Disziplin tatsächlich so eine große Bedeutung? Welche Forschungsergebnise und Daten gibt es? Tatsächlich zeigen zahlreiche Studien aus der Psychologie eine immense Bedeutung der Selbstdisziplin (Tice und Bratslavsky, 2000).
So liefert uns hohe Selbstdisziplin Vorteile:
- Schulerfolg und Studienerfolg
- gute soziale Beziehungen (Freunde)
- vernünftiger Umgang mit Geld
- Gesundheit
- pünktliches Beginnen und kontinuierliches Arbeiten an Aufgaben (Steel, 2007)
Ebenso beschert uns geringe Selbstdisziplin Nachteile:
- krankhafter Konsum und Überschuldung
- verbale und physische Gewalt
- riskantes Sexualverhalten
- übermäßiges Essverhalten
- Substanzmissbrauch (z.B. Alkohol)
Diese Vor- und Nachteile von Disziplin zeigen: Selbstdisziplin ist sehr wichtig für unseren Erfolg im modernen Leben.
Ob wir einen Mangel an Selbstbeherrschung haben, können wir leicht feststellen mit diesen Fragen:
- Fällt es mir schwer, konzentriert und nachhaltig an einer Sache zu arbeiten – höre ich oft auf, sobald etwas anstrengend oder langweilig wird, und lasse mich ablenken?
- Fällt es mir schwer, mich zu beherrschen, mir selbst Grenzen zu setzen (z.B. bei Alkohol, Essen, Fernsehen, Computerspielen, Kaufverhalten…)?
- Bleibe ich fast immer in meiner Komfortzone und versuche das „kalte Wasser“ jeder Herausforderung zu vermeiden?
- Scheitere ich immer wieder bei den Zielen, die ich mir vornehme, weil ich den Weg dahin nicht „durchziehen“ will?
- Kann ich mich zuverlässig an Regeln und Verpflichtungen halten, auch an die eigenen, die ich mir selbst setze?
- Scheitern viele meiner sozialen Beziehungen, weil ich ungerne zurückgebe, mir die Pflege der Beziehungen zu aufwändig ist?
- Tausche ich immer wieder meine Zukunft und meine langfristigen Träume und Ziele gegen einen angenehmen Augenblick in der Gegenwart?
Insgesamt führt Selbstbeherrschung also zu mehr Erfolg in vielfältigen zentralen Lebensbereichen (Muraven, 2010) – und genau darum geht es in der Positiven Psychologie. Menschen mit mangelnder Disziplin zahlen dafür einen hohen Preis. Das hört sich nach einer Menge Gründe an, dass wir hohe Selbstdisziplin aufbauen. Wie können wir also unsere Disziplin fördern und entwickeln?
Disziplin lernen: Tipps zum disziplinierter werden
„Wie kann ich meine Disziplin fördern? Wie kann ich disziplinierter werden? Welche Tipps und Maßnahmen für mehr Selbstdisziplin gibt es?“ Das haben wir uns wahrscheinlich alle schon öfter gefragt. Tatsächlich gibt es hier gute Nachrichten aus der Positiven Psychologie: Selbstdisziplin lernen ist wie unsere Muskeln trainieren. Je mehr wir sie trainieren, desto größer wird sie.
Das sind die wichtigsten Tipps zum Disziplin lernen:
1. Attraktive Vision unserer Zukunft
Eine Vision unserer Zukunft ist ein mächtiges Instrument der Motivation (King, 2001). Warum auch sollten wir uns anstrengen, Selbstdisziplin haben, wenn wir gar nicht wissen wofür? Eine attraktive Vision ist deshalb unersetzlich, damit wir Disziplin lernen, denn sie schafft ein höheres Ziel. Eine gute Leitfrage zum Aufbau dieser Vision von uns selbst ist: „Wer will ich in fünf Jahren sein? Wie sieht mein Leben aus? Wo bin ich? Wer bin ich? Was habe ich erreicht? Was gibt meinem Leben wirklich Sinn?“ Dabei können wir ganz konkret denken an Lebensbereiche wie unsere Gesundheit, Beziehungen zu anderen Menschen, Karriere, Bildung und Wissen oder Wohlstand. Wir sollten am besten das mentale Bild schriftlich oder gar zeichnerisch festhalten und immer wieder in die Erinnerung bringen, wenn wir Disziplin brauchen. Durch das wiederholte Erinnern „brennen“ wir die Vision in unser Gehirn ein.
2. Konkrete Ziele
Die große emotionale Vision unserer Zukunft ist schön. Jetzt geht es um den Weg dahin, die konkreten Ziele. Dafür hat sich die SMART-Methode bewährt (z.B. Steers und Porter, 1974). Im Akronym SMART steht jeder Buchstabe für eine Eigenschaft, die unsere Ziele haben sollten. Unsere Ziele sollen demnach sein:
- spezifisch (also sehr konkret)
- messbar
- akzeptiert (sie müssen uns gefallen, attraktiv sein)
- realistisch (das bedeutet anspruchsvoll, aber erreichbar)
- terminiert (sie brauchen einen festen Zeitpunkt, zu dem wir sie erreichen wollen)
Diese SMART-Ziele sind das Bindeglied unserer Vision zur Praxis. Wichtig sind kleine Unterziele, die uns beantworten: Wie sieht mein Tag heute ganz konkret aus, was will ich messbar erreichen und wie werde ich das tun?
3. Gewohnheiten
Große Teile unseres Verhaltens sind reine Gewohnheit. Und Gewohnheiten laufen von selber ab, ohne viel bewusste Aufmerksamkeit (Wood, Tam und Witt, 2005). Höchste Disziplin lernen, das geht daher nur mit Gewohnheiten. Wir formen unsere Gewohnheiten – und unsere Gewohnheiten formen dann uns. Als nächsten Schritt für mehr Disziplin brauchen wir deshalb gute Gewohnheiten. Warum? Weil wir uns nicht immer zu etwas zwingen können – und nebenbei auch nicht wollen. Das erfordert zu viel Willenskraft, ist unangenehm und ist auch nicht notwendig. Gewohnheiten sind ein super Trick, mit dem wir diszipliniertes Verhalten erreichen, ohne viel Disziplin zu brauchen. Gewohnheiten setzen das gewünschte Verhalten auf „Autopilot“. Wie können wir diesen Autopiloten für gewünschtes Verhalten aufbauen? Ein Trick dazu ist, dass wir ein gewünschtes Verhalten immer an eine auslösende Situation knüpfen.
Es gibt viele Beispiele dafür aus unserem Alltag:
- Wir sind fertig mit dem Frühstück – putzen unsere Zähne.
- Wir setzen uns zum Essen – wünschen guten Appetit.
- Wir gehen aus einem Zimmer – machen das Licht aus.
All das passiert bei den meisten Menschen ganz automatisch, wir haben diese guten Gewohnheiten.
Jetzt geht es darum, unsere konkreten Ziele auf dem Weg zur Vision als Gewohnheiten zu etablieren, sie fest an auslösende Situationen zu knüpfen. Das geht mit etwas Kreativität sehr leicht. Diese Beispiele zeigen das Vorgehen.
- Ziel: Wir wollen jeden Tag 20 Liegestützen machen für mehr Bewegung und sportlicheres Aussehen. Gewohnheit mit auslösender Situation: Immer bevor wir auf die Toilette gehen, machen wir fünf Liegestützen. Immer, bevor wir ein Papier vom Drucker holen, machen wir fünf Liegestützen.
- Ziel: Wir wollen am Tag mindestens zwei Liter Wasser trinken für unsere Gesundheit. Gewohnheit mit auslösender Situation: Immer, bevor wir essen, trinken wir ein Glas Wasser. Das geht los mit dem Frühstück. Immer, bevor wir anfangen am Computer zu arbeiten, trinken wir ein Glas Wasser. Immer, wenn wir einen übergeordneten Arbeitsschritt abgeschlossen haben, trinken wir ein paar Schluck Wasser.
4. Öffentliches Commitment
Wenn wir ein Ziel öffentlich ankündigen, dann stehen wir in der Pflicht (Klein et al., 2020). Aber Vorsicht: Wir müssen für die Wirksamkeit das Ziel unbedingt einer Person mit möglichst hohem Status mitteilen. Einer Person, die wir wirklich bewundern. Einer Person, deren Anerkennung wir suchen. Wenn wir unsere Ziele dagegen mit Personen ohne hohen Status teilen, dann könnte das sogar schädlich für unsere Motivation sein, zeigen Studien (Gollwitzer et al., 2009). Warum ist das so? Weil wir uns vor diesen Personen nicht beweisen müssen. Sie bewundern uns doch schon allein dafür, dass wir ein ambitioniertes Ziel nennen… Also warum dann noch diszipliniert anstreben? Disziplin lernen wir also durch Verpflichtungen gegenüber Menschen, deren Anerkennung uns wichtig ist, deren Anerkennung wir uns erst verdienen müssen.
5. Ablenkungen ausschalten
Wir leben in einem Zeitalter der Ablenkungen und es fällt uns schwer, diszipliniert zu sein. Wir werden durchschnittlich alle paar Minuten bei der Arbeit unterbrochen und verlieren dadurch täglich über zwei Arbeitsstunden (Wajcman und Rose, 2011). Die größten Ablenkungen sind mittlerweile der Blick auf das Smartphone, E-Mails checken und Fernsehen.
Was also tun gegen die ganzen Ablenkungen und Zeitfresser, die unserer Disziplin schaden? Das Vorgehen ist denkbar einfach, hat aber seinen Preis… Wer diszipliniert werden will, sollte folgende Tipps umsetzen: Smartphone ausschalten und außer Sicht platzieren, Fernseher am besten ganz abschaffen, E-Mails maximal nur zu einer Zeit am Tag checken. Zusätzlich sollten wir alle akustischen Hinweise auf E-Mails und SMS deaktivieren, Nachrichten am Sperrbildschirm des Handys reduzieren, Computerspiele niemals auf Arbeitsgeräten haben… Die Richtung ist damit klar. Wie gesagt: Es hat seinen Preis.
6. Einfach anfangen
Das schwierigste an Disziplin ist oft der erste Schritt. Wenn wir es schaffen, uns zu einem kleinen ersten Schritt zu bewegen, dann geht es oft wie von allein weiter. Dazu können kleine Veränderungen in unserer Umgebung beitragen. Ein Beispiel: Wer bleibt schon nicht gerne liegen, wenn der Wecker neben dem Bett klingelt und schaltet ihn einfach aus? Lösungsansatz: Der Wecker kommt an einen Ort, bei dem wir erst aufstehen müssen, um ihn auszuschalten. Das zwingt uns zum ersten Schritt: Aufstehen. Und wer schon steht, der bleibt eher stehen und geht nicht zurück ins Bett. Ein weiterer Trick, um anzufangen, ist mit sich selbst einen kleinen ersten Schritt zu verhandeln: „O.k. ich gehe Laufen – aber nur 5 Minuten.“ „Gut, ich starte mit der Steuererklärung – aber ich mache nur die Telefon- und Internetkosten.“ Sobald wir unser Mini-Ziel erreicht haben, können wir uns fragen: „Und, will ich noch weiter machen?“ Meist lautet die Antwort dann: „Ja!“
7. „Nein!“ sagen
Zeit ist eine sehr begrenzte und kostbare Ressource. Deshalb ist eines entscheidend: Grenzen setzen. Unsere verfügbare Zeit ist einer der wesentlichsten Einflüsse auf Erfolg. Das ist vielen Menschen nicht bewusst. Andere Personen nehmen diese unbedachten Menschen dann gerne für ihre Ziele in Anspruch – sei es am Arbeitsplatz oder privat zu Hause. Und sie wollen das zu ihren eigenen Spielregeln tun: „Ja, du bist beschäftigt. Ich muss das aber jetzt entscheiden, hilf mir. Wann anders geht es bei mir nicht.“, „Ich habe nur da Zeit und brauche deine Unterstützung.“ So und so ähnlich lauten ihre Forderungen. Gerade Menschen mit narzisstischen Zügen sind oft absolut blind für die Bedürfnisse und Belange der Menschen in ihrem Umfeld – für unsere Bedürfnisse. Für diese Personen zählen nur sie selbst, ihre aktuellen Ziele. Wir sind nur ein Instrument für sie.
Oft scheitern wir an unseren Zielen und deren disziplinierter Verfolgung, weil wir zu wenig auf unsere eigene Zeit achten. Es ist deshalb wichtig, dass wir von Menschen in unserer Umgebung hohe Selbständigkeit einfordern und fördern. Natürlich sind wir oft verantwortlich für andere Menschen und sollten auch nicht zu jedem Anliegen hartherzig „nein“ sagen. Es geht hier um klare Regeln, Grenzen und feste Zeitfenster. Wir unterstützen – aber nach unseren Regeln. Wir sagen: „Da habe ich Zeit. Das ist der Termin.“ „Bei diesem Thema erwarte ich, dass du das selbst entscheidest und löst.“
8. Nicht überstrapazieren
Selbstdisziplin ist wie ein Muskel – kurz nach einem anstrengenden Einsatz ist unsere Disziplin daher müde und schwach. Wie ein Athlet sollten wir daher bei unserer Selbstdisziplin lernen, diese nicht zu extrem einzusetzen und Zeit zum Regenerieren einplanen. Nachhaltige Disziplin braucht Pausen zur Regeneration. Das kann beispielsweise ein „Gammeltag“ in der Woche sein, an dem wir zu uns selbst milde sind und einfach auf der Couch oder im Bett liegen, ohne von uns auch nur irgendetwas zu fordern.
- Habe ich keine klaren Ziele?
- Oder lasse ich mich vielleicht zu leicht ablenken (E-Mails, Apps, andere Menschen…)?
- Bin ich jemand, der zu Anderen nur sehr schwer „nein“ sagen kann?
- Starte ich so extrem und überdiszipliniert, dass ich oft schon nach kurzer Zeit aufgebe, frustriert bin, keine Lust mehr habe?
- …
Je nachdem, wo unsere größten Hebel sind, können wir am wirksamsten ansetzen und mehr Disziplin lernen.
Der nächste Abschnitt stellt spannende Forschungsergebnisse aus der Psychologie zum Thema Disziplin vor.
Psychologische Forschung zu Selbstdisziplin: Marshmallows und Co.
Es gibt viel Forschung rund um Selbstdisziplin. Dieser Abschnitt greift zwei besonders spannende Themen als Beispiele heraus: den Marshmallow-Test und die Frage: Was ist wichtiger für Schulerfolg – Intelligenz oder Disziplin?
Für Psychologen haben Marshmallows und Selbstdisziplin viel miteinander zu tun. Warum? Wegen eines berühmt- berüchtigten Experimentes zu Selbstdisziplin, dem Marshmallow-Test.
Was sagt es über den späteren Erfolg im Leben aus, ob ein vierjähriges Kind ein einzelnes Marshmallow sofort aufisst – oder 15 Minuten damit warten kann, um noch ein zweites Marshmallow dazu als Belohnung zu erhalten? Offenbar eine ganze Menge, wenn man den Forschungen des Psychologen Walter Mischel folgt…
Doch der Reihe nach: Walter Mischel wählte ab den späten 1960er Jahren Kinder im Vorschulalter für seine „grausamen“ Experimente aus (z.B. Mischel und Ebbesen, 1970; Mischel, Ebbesen und Raskoff-Zeiss, 1972). Was machte er mit diesen Vorschulkindern? Er gab ihnen ein Marshmallow und stellte sie vor eine harte Wahl: entweder das Marshmallow sofort essen – oder 15 Minuten das Marshmallow nicht zu essen und dann ein zweites dazu als Belohnung zu bekommen. Wahlweise gab es auch andere Belohnungen wie kleine Salz-Brezeln. Es ging bei seinen Experimenten immer um das Gleiche Thema: Aufschub von Belohnungen (delayed gratification), um nach dem disziplinierten Abwarten einer Zeitspanne umso mehr Belohnung zu bekommen. Mit seinem Marshmallow-Test erhob Mischel die Selbstdisziplin der Kinder.
Was sagt der Marshmallow-Test vorher, wie ist seine Aussagekraft? Kurzfristig nicht viel. Walter Mischel begleitete die Kinder aber über viele Jahre. Wer im Vorschulalter den „Marshmallow-Test“ bestanden hatte, war viele Jahre später
- besser in der Schule (Mischel, Shoda und Rodriguez, 1989),
- besser im Studium (Ayduk et al., 2000),
- sozial kompetenter und handlungsfähiger (Ayduk et al., 2000),
- beliebter bei Freunden und Gleichaltrigen (Shoda, Mischel und Peake, 1990),
- seltener übergewichtig (Schlam et al., 2013) und
- besser im Umgang mit Frustration und Stress (Shoda, Mischel und Peake, 1990).
Zudem zeigten sich noch vierzig Jahre später bei Erwachsenen im mittleren Lebensalter Unterschiede in der Hirnfunktion – wohlgemerkt in Abhängigkeit davon, ob sie Jahrzehnte zuvor als Vorschulkinder den „Marshmallow-Test“ bestanden hatten (Casey et al., 2011).
Kommen wir zu einem zweiten Forschungsbeispiel: Selbstdisziplin und Bildungserfolg.
Die Psychologen Angela Duckworth und Martin Seligman veröffentlichten 2005 einen Forschungsbericht, der einschlug wie eine Bombe (Duckworth und Seligman, 2005). Viele Menschen waren bisher der Meinung, dass Schulnoten in erster Linie eine Frage der Intelligenz oder guten Unterrichts seien. Wer gute Noten hat, ist einfach ein „kluges Kind“. So eine verbreitete Volks-Meinung. Andere betonen die soziale Herkunft als allein entscheidend und sagen „Kinder mit armen Eltern haben schlechtere Bildungschancen!“. Dieses scheinbare „Allgemeinwissen“ muss spätestens seitdem korrigiert werden.
Zwei Studien mit Achtklässlern erzeugten folgende Ergebnisse:
- Selbstdisziplin (auf verschiedene Arten gemessen) sagt Bildungserfolg (akademische Leistungen) mehr als vier Mal so stark (über doppelt so hohe Korrelation) vorher wie der IQ (Intelligenzquotient).
- Schüler mit hoher Disziplin fangen früher am Tag mit Hausaufgaben an und bleiben länger dran,
- fehlen seltener in der Schule als „krank“,
- schauen deutlich weniger Fern und
- qualifizieren sich öfter für höhere Bildungswege.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass diese Resultate in der Praxis nach wie vor weitgehend ignoriert sind. Liefern Bildungsstudien schlechte Ergebnisse, dann kreist das Denken um Lösungen nahezu ausschließlich um Fragen von Migration (Sprache), Lehrermangel und sozialer Herkunft. Diese Daten weisen auf ein nahezu vergessenes Handlungsfeld: Wie wäre es mit mehr Disziplin?
Die Forschung im Bereich Disziplin geht weiter. Wichtige neuere Erkenntnisse sind, dass 50 Prozent (eher mehr) der Selbstdisziplin angeboren sind (Willems et al., 2018). Interessant ist auch die Diskussion um ökonomische Zusammenhänge. Menschen mit niedriger Selbstdisziplin sind anfälliger für hochverzinste kurzfristige Verschuldung, Einkommenseinbußen und ungeplante Ausgaben (Gathergood, 2012). Wer schon als Kind Selbstdisziplin hat, verfügt dagegen als Erwachsener über ein höheres Einkommen (Fergusson, Boden und Horwood, 2013). Diese Effekte sind auch robust, wenn statistisch auf sozioökonomischen Status der Eltern kontrolliert wird. Stimmen nach dem Motto „Wer reiche Eltern hat, bekommt mehr Disziplin vermittelt und hat Vorteile im Leben. Der Erfolg liegt aber nicht an der Disziplin, sondern einfach am sozialen Hintergrund!“ sind daher nicht haltbar. Es sieht eher nach folgendem Muster aus: „Eltern mit hoher Selbstdisziplin haben einen hohen sozioökonomischen Status erreicht. Sie vererben und vermitteln ihre Selbstdisziplin an ihre Kinder weiter. Diese Kinder outperformen ihre Peers mit Disziplin – genauso wie schon ihre Eltern vor ihnen.“ Der ökonomische Erfolg ist die Konsequenz aus der Disziplin, nicht ihre Ursache. Tatsächlich profitieren Kinder ohne Disziplin wenig vom hohen sozioökonomischen Status der Eltern.
Risiken und Nachteile von Selbstdisziplin
Was sind Nachteile von Disziplin? Ist Disziplin wirklich so ein Segen, wie die obigen Forschungsergebnisse nahelegen? Die Antwort lautet: „Ja. Doch es gibt auch eine andere Seite der Medaille, eine Schattenseite.“ Magersucht, Workaholismus, Burnout und Übertraining – das sind keine positiv besetzten Begriffe. Und das hat alles eines gemeinsam: Unsere Disziplin wendet sich hier gegen uns selbst, weil wir es übertreiben. Wir hungern, arbeiten und trainieren uns dann im schlimmsten Fall ins Krankenhaus oder sogar auf den Friedhof. Wir verwechseln unsere eigenen Grenzen dann mit dem inneren Schweinehund, der uns im Weg steht.
Lies das Buch zu diesem Online-Text:
- profitiere vom Wissen und den Forschungsergebnissen der Psychologie
- lerne mit Beispielen von den erfolgreichsten Menschen
- nutze praxiserprobte Tipps
von Diplompsychologe Prof. Dr. Florian Becker
Bestimmte Prinzipien der Disziplin wie das berühmte Motto der Navy-Seals sind daher fragwürdig: „Wenn du denkst, es geht nicht mehr, dann hast du erst 40 Prozent deiner Leistungsfähigkeit erreicht.“ Das stimmt bestenfalls bei Menschen, die schnell aufgeben und kann uns vielleicht bei sehr kurzfristiger Orientierung helfen, ein Ziel mit aller Gewalt zu erreichen. Was nutzt es uns aber, wenn wir beispielsweise so schaffen, ein enormes Gewicht zu heben – aber unsere Knie oder der Rücken irreparable Schäden erleiden?
Für fast alle wichtigen Ziele im Leben ist die Marathon-Perspektive entscheidend: lange dranbleiben mit einem vernünftigen Level an Disziplin. Dagegen ist die Sprint-Perspektive meist schädlich. Ein überambitioniertes Ziel mit aller Gewalt ohne Rücksicht auf Verluste erreichen – wer so handelt, der schadet seinem langfristigen Erfolg. Konfuzius formulierte das so: „Es ist nicht wichtig, wie langsam du gehst. Hauptsache du bleibst nicht stehen.“
Deshalb sind Mitgefühl und Rücksicht zu uns selbst wichtig für nachhaltige Disziplin. Krankhafter Ehrgeiz schadet. Für viele ist es überraschend: Disziplin und Motivation kommt nicht daher, dass wir möglichst rücksichtslos, brutal und mitleidlos zu uns selbst sind. Tatsächlich scheint ein mitfühlender Umgang mit uns selbst wirksamer für dauerhafte Disziplin und Motivation (Breines und Chen, 2012). Ein etwas liebevoller Umgang mit uns selbst, so wie wir das auch gegenüber guten Freunden praktizieren, hat viele Vorteile – auch für unsere Disziplin. Zudem ist Mitgefühl gegenüber uns selbst gut, um Stress, Depressionen und Ängste zu reduzieren und unsere Belastbarkeit zu steigern (MacBeth und Gumley, 2012). Also: Pausen, Spaß und gute Freizeit als Belohnungen sind wichtig für unsere Disziplin. Sie helfen uns Kraft für unsere nächste Herausforderung zu schöpfen.
Disziplin ist wichtig für den Erfolg im Leben. Sie sollte aber immer nur ein Einstieg sein, kein Selbstzweck. Wichtig ist, dass wir auch Leidenschaft, Spaß und Freude nutzen auf dem Weg zu unseren Zielen. Und genau darum geht es im nächsten Kapitel. Es behandelt das Flow-Erleben: einen Zustand, bei dem Fokus, Disziplin und Freude Hand in Hand gehen.