Der Homo oeconomicus

Dieser Beitrag befasst sich mit dem Homo oeconomicus. Warum ist er eine Fehl-Vorstellung, was ist die wesentliche Kritik daran und warum führt er zu katastrophalen Fehlentscheidungen in Wirtschaft und Politik? Welche Annahmen bzw. Eigenschaften hat er? Wie sieht er als Modell aus? Warum ist er als Menschenbild trotz aller Kritik daran so weit und hartnäckig verbreitet? Los geht es mit der Definition. …

Homo oeconomicus: Das Menschenbild eines rationalen Entscheiders ist weit verbreitet
Homo oeconomicus: Das Menschenbild eines rationalen Entscheiders ist weit verbreitet

Was ist der Homo oeconomicus? Definition

Was ist ein Homo oeconomicus? Es handelt sich dabei um ein Menschenbild, das aus der klassischen Ökonomie stammt. Dieses Menschenbild geht von einem Nutzenmaximierer aus, einem Menschen, der seinen eigenen ökonomischen Nutzen maximiert und dabei vollkommen rational vorgeht (Rationalitätsannahme). Die genaue Definition des Homo oeconomicus lautet:

Der Homo oconomicus ist ein Menschenbild, das von einem rational entscheidenden und den eigenen ökonomischen Nutzen maximierenden Individuum ausgeht.

Ursprünglich wurde der Homo oeconomicus so definiert als vereinfachende Modellannahme verwendet, um beispielsweise die Reaktion der Nachfrager auf steigende Preise vorherzusagen. Mittlerweile hat sich das Bild aber in weiten Kreisen der Politik und Unternehmensführung als fixe Vorstellung und Menschenbild verbreitet, mit dem man versucht Mitarbeiter, Bürger und Kunden zu beeinflussen und zu steuern.

Weiter geht es mit den Annahmen und dem Modell des Homo oeconomicus.

Homo oeconomicus: Modell und Eigenschaften

Für das Verhalten von Menschen im wirtschaftlichen Kontext interessiert sich insbesondere die Volkswirtschaftslehre. Dabei unterstellt die Volkswirtschaftslehre bei ihren Theorien meist das Rationalprinzip als Verhaltensmaxime und eine Nutzenmaximierung im monetären Sinne als Ziel. Emotionen wie Freude sind also beispielsweise nicht als Nutzen vorgesehen.

Homo oeconomicus: Modell und Eigenschaften
Homo oeconomicus: Modell und Eigenschaften

Der Homo oeconomicus als Modell hat folgende Eigenschaften (vgl. Bongard, 1965):

  1. völlig zweckrationales Handeln. Der Homo oeconomicus verfolgt also immer einen Zweck mit seinem Handeln, ansonsten gibt es kein Handeln. Er wählt aus allen Handlungsalternativen rational die Alternative aus, die seinen Zweck am besten erfüllt.
  2. Gewinn bzw. Nutzenmaximierung im monetären Sinne. Was ist der Zweck, den der Homo oeconomicus verfolgt? Er möchte seinen ökonomischen Nutzen maximieren, also Geld oder Geldwerte Vorteile bekommen und Kosten vermeiden. Anders ausgedrückt: Er fährt nicht aus Freude Auto, sondern weil er von A nach B möchte. Warum möchte er nach B? Weil B einen monetären Vorteil gegenüber A bietet.
  3. vollkommene Markttransparenz und Voraussicht. Der Homo oeconomicus verfügt über alle Informationen. Daher kommen derartige Annahmen wie „Aktien haben ihren fairen Preis, alle Risiken und Chancen sind bereits eingepreist!“ oder „Der Markt regelt das, die besten Angebote setzen sich durch!“.
  4. sofortige Reaktion auf Datenänderungen. Ändert sich irgendeine Rahmenbedingung, dann reagiert der Homo oeconomicus sofort. Ein anderer Job bietet mehr Gehalt für die gleiche oder weniger Arbeit? Ein anderer Mobilfunktarif hat ein besseres Preisleistungs-Verhältnis? Er wechselt sofort – vorausgesetzt der Wechsel verursacht keine höheren Kosten als die Vorteile des Wechsels.

Das Modell des Homo oeconomicus ist in sich schlüssig und es lassen sich logisch Ableitungen für spezifische Bereiche des Wirtschaftslebens machen. Bekannt ist etwa das Modell zum Marktgleichgewicht mit seinen rationalen Zusammenhängen zwischen Angebot, Preis und Nachfrage. Sinkt der Preis, dann steigt die Nachfrage usw.

Der folgende Abschnitt liefert ein Beispiel für den Homo oeconomicus im Management.

Beispiel: Der Homo oeconomicus im Management

Ein Paradebeispiel für den Homo oeconomicus als Menschenbild im Management, ist der Motivationsansatz von Jack Welch. Jack Welch war 20 Jahre lang CEO bei General Electric. Dort führte er ein System ein, das er als „Differentiation“ bezeichnete. In Deutschland ist dieser Ansatz auch als „20-70-10-Prinzip“ bekannt geworden. Im Kern funktioniert dieses System folgendermaßen:

  1. Für jeden der mehreren 100.000 Mitarbeiter bei General Electric wird definiert, was seine konkreten Ziele sind und was Arbeitsleistung ist.
  2. Zu dieser Definition von Leistung sucht man dann messbare Indikatoren.
  3. Dann geht es darum mit den Indikatoren bei jedem Mitarbeiter die Arbeitsleistung zu messen.
  4. Die Arbeitsleistung von Mitarbeitern auf ähnlichen Positionen vergleicht man am Ende eines Zeitraumes (z.B. jedes Jahr).
  5. Anschließend differenziert der Ansatz Mitarbeiter in drei Gruppen: Die 20 Prozent, die am meisten leisten, 70 Prozent Mittelfeld und 10 Prozent mit der geringsten Leistung in jedem Bereich.
  6. Als letzter Schritt erfolgen Konsequenzen in Form von Belohnungen und Bestrafungen. Bei General Electric bekamen die 20 Prozent der leistungsstärksten Mitarbeiter monetäre Belohnungen (Geld) und die 10 Prozent schwächsten Mitarbeiter wurden entlassen.

Aus diesem Ansatz lässt sich erahnen, welches Bild Jack Welch von seinen Mitarbeitern hatte. Im Kern könnte es etwa so aussehen:

„Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass meine Mitarbeiter von sich aus motiviert arbeiten. Zu viele würden nur wenig leisten aus eigenem Antrieb. Daher muss ich von außen antreiben. Ich muss erheben, was jeder leistet und dann ökonomisch belohnen und bestrafen, damit meine Mitarbeiter motiviert sind!“.

Er geht also offenbar von einem Mitarbeiter aus, der ohne ökonomische Anreize und Konsequenzen einfach faul ist und nicht von sich aus Freude an Arbeit und Verantwortung hat.

Es ist klar, dass so eine umfassende Maßnahme wie 20-70-10 Vorteile und Nachteile hat. Nicht umsonst haben sich beispielsweise sowohl General Electric als auch Microsoft (die das System leicht abgewandelt einsetzten) wieder vom System der Differentiation verabschiedet.

Der nächste Abschnitt zeigt wie und warum sich diese Annahmen aus dem Modell so weit verbreitet haben.

Verbreitung des Homo oeconomicus und der Rationalitätsannahme

Weit über die Grenzen der Ökonomie hinaus hat sich das Modell eines rationalen Entscheiders sehr erfolgreich verbreitet. Der Homo oeconomicus erfreut sich größter Beliebtheit bei Entscheidern in weiten Schichten der Gesellschaft, wo er im besten Sinne als alltagspsychologische Theorie Verwendung findet.

Gründe für die Verbreitung der Annahme eines rationalen Entscheiders sind:

Simplizität
Das Modell ist in sich einfach und logisch und ermöglicht es ganz simpel und rational Entscheidungen zu begründen. Alles liegt jetzt letztendlich am Geld in dieser Vorstellungswelt.

Bequemlichkeit
Aus dem Modell lassen sich bequem und sofort logische Maßnahmen ableiten, ohne sich mit tatsächlichen Ursachen auseinandersetzen zu müssen. „Akademikerinnen bekommen zu wenige Kinder? Gut, wir zahlen Elterngeld, dann erhöht sich der monetäre Nutzen von Kindern und es wird mehr Geburten geben! – Nächstes Thema bitte.“ Als Führungskraft oder Politiker kann man so einfach und schnell Handlungskompetenz zeigen.

bedient die Rationalitätsillusion
Der Homo oeconomicus entspricht dem falschen Eindruck, dass man selbst rational entscheidet. Entscheidungen, die nicht rational getroffen werden, haben einen geringen Bewusstseinsanteil und werden daher nicht erinnert. Rationale Entscheidungen greifen dagegen auf das Bewusstsein zu, bleiben stärker im Gedächtnis. Entsprechend entsteht bei Menschen die Illusion, sie würden vor allem rational entscheiden. Tatsächlich sind nur ein Bruchteil der Entscheidungen rational. Ungefähr die Hälfte des täglichen Verhaltens von Menschen ist durch nahezu unreflektierte Gewohnheiten geprägt (Wood, Tam und Witt, 2005), die restlichen Arten der Entscheidung sind auch wenig rational.

ideologiekonform
Das Bild eines vorwiegend aus Gewohnheit und Impuls handelnden Menschen ist wenig schmeichelhaft und findet ideologischen Widerspruch in westlichen demokratischen politischen Vorstellungen aber auch in der technisch-rationalen Logik von Wirtschaftsunternehmen. Wie viel angenehmer und schöner ist da doch für viele das Bild des Homo oeconomicus.

sozial akzeptiert
Auch die weite Verbreitung und Akzeptanz an sich wird zum Selbstläufer. Widerspruch bei Entscheidungen wird unwahrscheinlicher, Zustimmung wahrscheinlich, wenn sie sich am Menschenbild eines rationalen Entscheiders orientieren. Und so geht es fröhlich weiter: „Die Bürger kaufen keine Elektroautos! – Das liegt an den Kosten, wir machen eine Subvention und dann kaufen sie schon.“

Der nächste Abschnitt zeigt die Konsequenzen aus der Verbreitung dieses rationalitätsgetriebenen Menschenbildes.

Konsequenzen des Homo oeconomicus

Die Konsequenzen der weit verbreiteten laienpsychologischen Theorie, der Mensch sei ein rationaler Nutzenmaximierer, sind unübersehbar.
Zahlreiche Entscheidungen in Politik und Wirtschaft haben ganz offensichtlich ein rationales Menschenbild als Grundlage.

Ein Beispiel: Das politische Ziel, dass Menschen weniger rauchen, wurde – etwas vereinfacht ausgedrückt – in die Maßnahme übersetzt, Verbraucher auf den Packungen von Zigaretten zu informieren „Rauchen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu.“ Um logisch zu so einer Maßnahme zu kommen, sind zwei Überzeugungen erforderlich. Erstens: Menschen rauchen, weil es ihnen an Information fehlt. Wenn sie wüssten, dass Rauchen schadet, würden sie nicht rauchen. Zweitens: Rauchen ist eine bewusste Entscheidung, bei der Vorteile und Nachteile abgewogen werden und dann auf dieser Basis die Entscheidung, zu rauchen, getroffen wird. Beide Überzeugungen sind weltfremd. Raucher wissen ganz überwiegend, dass es ihnen schadet und rauchen trotzdem. Zudem ist Rauchen keine ausgiebige bewusste Entscheidung, sondern eher im Bereich von Gewohnheit und Impulsverhalten angesiedelt. Realistischer ist hier die Tabakindustrie, die nie auf die Idee käme ihre Produkte mit rationalen Sachargumenten zu verkaufen. Etwa nach dem Motto: „Die zehn Gründe, warum Sie Marlboro rauchen sollten!“

Andere politische Maßnahmen wie das Elterngeld oder Bereiche des Steuersystems entspringen ähnlichen Geisteshaltungen und Vorstellungen. Entsprechend dürftig sind meist die Ergebnisse der Maßnahmen.
Auch in der Wirtschaft orientieren sich Entscheider häufig an einem rationalen Menschenbild. Den stark zugespitzten Aussagen „Wir verlieren Marktanteil? Dann müssen wir den Preis senken!“ oder „Die Mitarbeiter könnten engagierter arbeiten? Wir setzen Boni ein und drohen den Leistungsschwachen mit Sanktionen!“ liegen Rationalitätsannahmen zu Grunde. Auch hier sind die Ergebnisse oftmals nicht die erhofften.

Interessanterweise führt das häufige Ausbleiben des Erfolges von Maßnahmen, die auf Basis eines rationalen Menschenbildes getroffen wurden, nicht zu einem Verwerfen der Rationalitätsannahme bei den Betroffenen. Das bereits geschilderte hartnäckige Festhalten an auch noch so unzutreffenden alltagspsychologischen Theorien kann hier gut beobachtet werden.

Kritik am Homo oeconomicus

Die Annahmen des Homo oeconomicus haben sich trotz ihrer Beliebtheit in der Praxis als verbreitete laienpsychologische Theorie und Grundlage für Entscheidungen empirisch nicht bestätigen lassen. Preis-Nachfrage Funktionen sind nur eines von vielen Beispielen, in dem sich ganz andere Effekte zeigen, als von klassischen ökonomischen Theorien vorhergesagt. In der Praxis finden sich zahlreiche Situationen, in denen Kunden eher bereit sind etwas zu kaufen, wenn der Preis höher ist. Unter anderem zeigt sich eine wenig rational geprägte Entscheidungsfindung auch beim Kauf von Prestigegütern und Luxusmarken.

Ganz allgemein tut sich die klassische Ökonomie schwer damit, Spekulationsblasen, Panikreaktionen oder Abweichungen von klassischen Preis-Nachfrage Funktionen zu erklären. Aber auch bei ganz alltäglichen Aspekten des Wirtschaftslebens wie Spendenverhalten, der reinen Existenz von Märkten wie alkoholischen Getränken, Glücksspiel, Computerspielen oder Tabakwaren tut sich ein rationales Bild des ökonomischen Entscheiders schwer. Sicher würde der Homo oeconomicus niemals anonym spenden, ehrenamtlich arbeiten, ohne Betrugsabsicht an Glücksspiel teilnehmen, Coca-Cola kaufen, einen BMW fahren, Computerspielen, Fernsehen (zumindest nicht die Sendungen mit hoher Einschaltquote) usw. Der ganze Konsumbereich sähe vollkommen anders aus.

Auch auf dem Arbeitsmarkt sind mit einem Homo oeconomicus ehrenamtliche Arbeit ohne Lohn oder die Auswahl von Tätigkeiten nach sozialem Umfeld und Sinnerleben in der Arbeit nicht erklärbar. Arbeit aus Freude ist kein Kriterium für einen ökonomischen Nutzenmaximierer. Darüber hinaus müssten bei Gültigkeit des Modells auf dem Arbeitsmarkt wesentlich mehr Personen der Prostitution nachgehen, ist hier doch der ökonomische Nutzen je investierter Zeiteinheit im Vergleich sehr groß.

Resümee: Soll Erleben und Verhalten im wirtschaftlichen Kontext zuverlässig beschrieben, erklärt, vorhergesagt und beeinflusst werden, dann ist es notwendig, sich endgültig von der Annahme des Homo oeconomicus zu verabschieden und sich den Forschungsergebnissen der Psychologie zu öffnen. Wirtschaftspsychologie kann hier einen sehr wertvollen Beitrag leisten. Davon handeln die nächsten Kapitel.

Der letzte Abschnitt gibt Literaturhinweise zur weiteren Vertiefung.

Homo oeconomicus: Literatur

Aktuelle Literatur-Tipps zum Homo oeconomicus.

Tipp
Tipp

Das folgende Kapitel behandelt Entscheidungen aus Sicht der Psychologie.